Das Liedlein vom Kirschbaum von Johann Peter Hebel
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Der liebgott het zum frůelig gseit: |
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«gang, deck im würmli au si tisch!» |
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druf het der chriesbaum blätter treit, |
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vil tûsig blätter grůen und frisch. |
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Und ’s würmli usem ei verwachts, |
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’s het gschlôfen in sim winterhûs, |
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es streckt si, und spêrt ’s müüli uf, |
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und rîbt die blœden augen ûs. |
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Und druf se hets mit stillem zân |
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am blättli gnagt enandernô |
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und gseit: «wie ist das gmůes so gůt! |
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mer chunt schier nümme weg dervô.» |
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Und wider het der liebgott gseit: |
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«deck iez im immli au si tisch!» |
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druf het der chriesbaum blůete treit, |
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vil tûsig blůete wîß und frisch. |
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Und ’s immli siehts und fliegt druf hî, |
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frůej in der sunne morgeschî; |
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es denkt, das wird mi kaffe sî; |
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si hend doch chosper porzelîn!» |
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Wie sûfer sin die chächli gschwenkt! |
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es streckt si trochche züngli drî, |
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es trinkt und seit: «wie schmeckts so sůeß! |
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do můß der zucker wolfel sî.» |
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Der liebgott het zum summer gseit: |
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«gang, deck im spätzli au si tisch!» |
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druf het der chriesbaum früchte treit, |
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viel tûsig chriesi rôt und frisch. |
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Und ’s spätzli seit: «isch das der bricht? |
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do sitzt me zů und frôgt nit lang. |
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das git mer chraft in mark und bei, |
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und stärkt mer d’stimm zů neuem gsang.» |
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Der liebgott het zum spœtlig gseit: |
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«rûm âb, si hen iez alli g’ha!» |
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druf het e chůele bergluft gweijt, |
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und ’s het scho chlîne rîfe ghâ. |
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Und d’blättli werde gêl und rôt |
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und fallen eis em andre nô; |
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und was vom boden obsi chunnt, |
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můß au zum bode nidsi gô. |
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Der liebgott het zum winter gseit: |
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«deck weidli zů, was übrig isch!» |
43 |
druf het der winter flocke gstreut. |
Details zum Gedicht „Das Liedlein vom Kirschbaum“
Johann Peter Hebel
11
43
279
nach 1776
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang
Gedicht-Analyse
Das Gedicht, „Das Liedlein vom Kirschbaum“, wurde von Johann Peter Hebel verfasst. Hebel, geboren am 10. Mai 1760 und verstorben am 22. September 1826, war ein bekannter Dichter der Aufklärung. Dieses Gedicht lässt sich daher in das 18. bis Anfang 19. Jahrhundert einordnen.
Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht in alemannischer Mundart verfasst ist, was Hebel typisch ist. Es verleiht dem Gedicht einen volksnahen, bäuerlichen Ton.
Inhaltlich betrachtet, folgt das lyrische Ich im Gedicht dem Zyklus eines Kirschbaums und der mit ihm interagierenden Tiere durch ein Jahr hindurch. Es beginnt mit dem Frühling, in dem der „liebgott“ dem Baum befiehlt, dem Wurm einen Tisch zu decken. Der Baum folgt und trägt grüne Blätter, an denen der Wurm sich satt isst. Gleichzeitig erzählt das lyrische Ich von einem „immli“ (einer Biene), das den süssen Nektar der Kirschblüten trinkt. Es geht weiter mit dem Sommer, in dem der Baum Kirschen trägt, die ein Spatz genüsslich verspeist. Im Herbst wirft der Baum seine Blätter ab und im Winter bedeckt der Schnee den Baum und die abgefallenen Blätter.
Aus der Sicht des lyrischen Ichs handelt es sich also um eine Naturschilderung, die den harmonischen Kreislauf der Jahreszeiten und der Natur darstellt, in der alles seinen Platz hat und sich ein Rädchen ins andere fügt. Dabei werden die Pflanzen und Tiere vermenschlicht und mit menschlichen Handlungen und Gedanken versehen, um ihre wechselseitige Abhängigkeit und Interaktion zu verdeutlichen.
Formal gesehen besteht das Gedicht aus elf Strophen, mit jeweils vier Versen, bis auf die letzte Strophe, die aus drei Versen besteht. Die Sprache ist bildhaft, einfache und mit volkstümlichen Metaphern durchzogen, was zu einer lebendigen und greifbaren Darstellung der Natur und ihrer Geschehnisse führt. Trotz der regionalen Mundart wird die Botschaft von Harmonie und friedlichem Miteinander in der Natur klar und eingängig vermittelt.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Das Liedlein vom Kirschbaum“ ist Johann Peter Hebel. 1760 wurde Hebel in Basel geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1776 bis 1826 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Aarau. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 43 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 279 Worte. Der Dichter Johann Peter Hebel ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Karfunkel“, „Der Knabe im Erdbeerschlag“ und „Der Käfer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Liedlein vom Kirschbaum“ weitere 60 Gedichte vor.
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Zum Autor Johann Peter Hebel sind auf abi-pur.de 60 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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