Das Lied vom gehorsamen Mägdlein von Frank Wedekind

Die Mutter sprach in ernstem Ton:
Du zählst nun sechzehn Jahre schon;
Drum, Herzblatt, nimm dich stets in acht,
Besonders bei der Nacht.
Verlier dich von dem Lebenspfad
Nie seitwärts ins Geheg,
Geh immer artig kerzengrad’
Den goldenen Mittelweg.
 
Da kommt nun in der Dämmerstund’
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Des Pulvermüllers Heinrich und
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Küßt mich – mir ward gleich angst und bang –
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Wohl auf die rechte Wang’:
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O Heinrich, das verbitt’ ich mir;
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Sieht’s Mutter, setzt es Schläg’.
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Am allerbesten wählen wir
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Den goldenen Mittelweg.
 
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Und plötzlich schreit er glutentflammt:
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Ich führe dich zum Standesamt! –
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Schweig, sag’ ich, unverschämter Wicht;
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Dahin bringst du mich nicht! –
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Da flüstert er und freut sich schier,
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Weil ich’s mir überleg’:
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Nun gut, mein Schatz, dann wählen wir
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Den goldenen Mittelweg.
 
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Und wenn ich nun zur Ruh’ mich leg’,
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Mir träumt vom goldenen Mittelweg;
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Mein Spielzeug macht mir kein Pläsier,
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Ich gäb’ es gern dafür,
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Gäb’ meine Schuh’, mein Röcklein fein,
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Weiß Gott, ich gäb’ noch mehr;
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Hätt’ nie geglaubt, daß ich solch ein
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Gehorsam Mägdlein wär’.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Das Lied vom gehorsamen Mägdlein“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
169
Entstehungsjahr
1905
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht stammt von Frank Wedekind, einem deutschen Dramatiker und Lyriker, der von 1864 bis 1918 lebte. Es entstammt damit dem Fin de Siècle, einer Zeitspanne des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der sich verschiedene Umbrüche in Kunst, Kultur und Gesellschaft bemerkbar machten.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht aufgrund seiner klaren, liedhaften Struktur und seines regelmäßiges Reimschemas angenehm eingängig. Die Sprache ist meist schlicht und alltäglich, wodurch das Gedicht selbst in unserer heutigen Zeit sehr verständlich ist. Zugleich wird ein humorvoller, ironischer Ton suggeriert, der die Leser_innen zum Schmunzeln anregt.

Das Gedicht erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das von seiner Mutter zur Vorsicht und zum Einschlagen des „goldenen Mittelwegs“ ermahnt wird. Als die Protagonistin jedoch auf einen Mann namens Heinrich trifft, gerät sie in ein Dilemma: Auf der einen Seite soll sie „artig“ und „gehorsam“ sein und den von ihrer Mutter vorgezeichneten Weg nicht verlassen, auf der anderen Seite wird sie von heftigen Gefühlen für Heinrich übermannt. Schließlich entscheidet sie sich für einen Kompromiss, den „goldenen Mittelweg“, der sowohl Gehorsam gegenüber ihrer Mutter als auch Hingabe an Heinrich erlaubt.

Die Form des Gedichts ist das gereimte Vierzeilenlied mit Kreuzreimen. Alle vier Strophen bestehen aus jeweils acht Versen. Die Sprache ist zum größten Teil schlicht und volksliedhaft, was die einfache Verständlichkeit des Gedichts und seine Liedhaftigkeit unterstreicht.

Im Hinblick auf die Interpretation lässt sich sagen, dass das lyrische Ich hier exemplarisch einen Konflikt verhandelt, der typisch für viele junge Menschen am Übergang zur Erwachsenwerdung ist: Sie stehen vor der Herausforderung, einerseits die Erwartungen und Normen ihrer Eltern und Gesellschaft zu erfüllen (hier symbolisiert durch den „goldenen Mittelweg“) und andererseits ihre individuellen Bedürfnisse und Gefühle auszuleben. Der abschließende Vers, in dem das Mädchen sich selbst als „gehorsam“ bezeichnet, kann als ironische Brechung gelesen werden: Tatsächlich hat sie eigenmächtig und gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter eine Entscheidung getroffen, die ihr Leben verändern wird.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das Lied vom gehorsamen Mägdlein“ des Autors Frank Wedekind. Im Jahr 1864 wurde Wedekind in Hannover geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1905 zurück. München ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Bei Wedekind handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 169 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 32 Versen. Der Dichter Frank Wedekind ist auch der Autor für Gedichte wie „Allbesiegerin Liebe“, „Alte Liebe“ und „Altes Lied“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Lied vom gehorsamen Mägdlein“ weitere 114 Gedichte vor.

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