Das Lied vom deutschen Walde von Rudolf Lavant

Fürwahr, ihr Herrn, das war ein schlimmer Schlag!
Das war nicht adlig, ritterlich gehandelt!
Ich frage mich, was euch an jenem Tag –
Ein Tag des Unglücks war es! – angewandelt.
Der Wald ist reich und unser Volk ist arm,
Am ärmsten die, die sich des Bettelns schämen;
Wollt ihr dem Volk zu allem seinen Harm
Den Wald mit einem Federstriche nehmen?
 
Habt ihr bedacht, wie viel der Wald ihm giebt,
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Dem alten Weiblein, dem zerlumpten Buben,
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Als ihr die spitzen Paragraphen schriebt
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Am grünen Tisch, in wohldurchwärmten Stuben?
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Habt ihr bedacht, wie weh die Kälte thut?
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Euch ist die Noth ein wesenloser Schemen –
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Wo fändet sonst im Herzen ihr den Muth,
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Dem deutschen Volke seinen Wald zu nehmen?
 
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Ihr habt zum Wandern jährlich Geld und Zeit.
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Ist der Herr Graf der Amtespflichten ledig,
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So trägt der Dampf in einer Nacht ihn weit –
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Ins Herz der Schweiz, nach Rom und nach Venedig,
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Zu schau’n die Welt in jeglicher Gestalt,
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Braucht ihr euch nur zum Reisen zu bequemen –
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Und wollt dem Volk den lust’gen grünen Wald,
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Der seine einz’ge Sommerfrische, nehmen?
 
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Euch ist die Arbeit mit Genuß gemischt.
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Seid ihr „verstumpft“ – das kommt wohl vor zu Zeiten –
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So ist so Vieles da, was euch erfrischt,
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Ihr werdet „angeregt“ von allen Seiten.
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Es würde ja die Schwingen nur zu bald
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Das Einerlei, das öde, todte, lähmen;
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Das Volk jedoch hat nichts, als seinen Wald –
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Wollt ihr den Wald dem Volke wirklich nehmen?
 
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Auf springt im Zorn die heil’ge Poesie
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Und wird den Anschlag nimmer euch verzeihen.
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In deutscher Zunge sang ein Dichter nie,
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Der nicht im Wald empfangen seine Weihen.
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Um jedes Kind, das eben „Mutter“ lallt,
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Muß im Voraus des Vaters Herz sich grämen,
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Gelingt es euch, dem Volke seinen Wald,
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Dem deutschen Volk den deutschen Wald zu nehmen.
 
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Ein Zauber webt und waltet, süß und bang,
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Im tiefen Tann, wo scheue Rehe wohnen,
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Und ein Geheimniß braust wie Orgelklang
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Und weht wie Hauch des Mundes durch die Kronen.
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Wie Heimweh zieht es unser Volk zum Wald
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Und kein Gesetz wird diese Sehnsucht zähmen;
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Und darum sag’ ich ruhig euch und kalt:
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Ihr könnt, ihr werdet uns den Wald nicht nehmen.
 
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Ihr wißt, wie Viele in die Fremde fliehn
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Vor Trommelschlag, vor Fahne und Kaserne;
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Soll übers Meer die kräft’ge Jugend ziehn,
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Den freien Wald zu suchen in der Ferne?
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Und ward der Schritt gethan und sind sie fort,
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Wer wollte glauben, daß sie wiederkämen?
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Es bannte in die Ferne sie das Wort:
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„Hier wird den Wald dem Volke Niemand nehmen!“
 
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Macht ein Gesetz – das Volk versteht es nie!
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Es beteten zu Thor im Wald die Ahnen;
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Es beugten vor der Seherin das Knie
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Im Wald die Jäger-Krieger, die Germanen.
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Im Walde hielten tausendmal Gericht
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Nach altem Rechte feierlich die Vehmen –
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Laßt ab, ihr Herrn! Nein, es gelingt euch nicht,
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Dem deutschen Volke seinen Wald zu nehmen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.9 KB)

Details zum Gedicht „Das Lied vom deutschen Walde“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
479
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht trägt den Titel „Das Lied vom deutschen Walde“ und stammt von dem Dichter Rudolf Lavant, der von 1844 bis 1915 lebte. Aufgrund des Todesdatums des Autors und seiner thematischen Anklänge kann das Gedicht in die Epoche des Realismus eingeordnet werden, in der Eingriffe in die Natur durch Industrialisierung und Urbanisierung thematisch wurden.

Der erste Eindruck des Gedichts ist von starkem Nationalgefühl und Liebe zur Natur gekennzeichnet. Es wird von einem „lyrischen Ich“ gesprochen, das sich im Namen des Volkes an die herrschenden Kräfte wendet und sich gegen die Wegnahme des Waldes ausspricht.

Inhaltlich geht es im Gedicht darum, dass das lyrische Ich den Unmut der Bevölkerung kundtut, die gegen die geplante Wegnahme der Wälder durch die Herrschaft ist. Es stellt deutlich heraus, dass die Armen und das einfache Volk vom Wald profitiert und diesen braucht - sei es für Brennholz, als Fluchtmöglichkeit oder als Ort der Erholung. Das lyrische Ich argumentiert, dass die oberen Schichten nicht das Recht haben, den Wald für sich zu beanspruchen, da sie bereits andere Privilegien genießen.

Formell ist das Gedicht in acht Strophen mit jeweils acht Versen unterteilt. Der Wechsel von Anklage, Frage und Bekenntnis gibt dem Gedicht eine dramatische Struktur und erzeugt Spannung. Die Sprache ist pathetisch und emotional, was die Argumentation des lyrischen Ichs verstärkt.

Insgesamt handelt es sich bei dem Gedicht „Das Lied vom deutschen Walde“ um ein leidenschaftliches Plädoyer für den Erhalt des Waldes als allgemeines Gut der Gesellschaft und eine Kritik an der Oberschicht, welche diesen im Namen eigener Interessen für sich beanspruchen will. Es ist somit auch ein Appell an die Gerechtigkeit und die soziale Verantwortung der Herrschenden.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Das Lied vom deutschen Walde“ ist Rudolf Lavant. Geboren wurde Lavant im Jahr 1844 in Leipzig. Im Jahr 1893 ist das Gedicht entstanden. Stuttgart ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 479 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 64 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „An unsere Feinde“, „An unsere Gegner“ und „An la belle France.“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Lied vom deutschen Walde“ weitere 96 Gedichte vor.

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