Das Lied der Witwe von Rainer Maria Rilke

Am Anfang war mir das Leben gut.
Es hielt mich warm, es machte mir Muth.
Daß es das allen Jungen thut,
wie konnt ich das damals wissen.
Ich wußte nicht, was das Leben war –,
auf einmal war es nur Jahr und Jahr,
nicht mehr gut, nicht mehr neu, nicht mehr wunderbar,
wie mitten entzwei gerissen.
 
Das war nicht seine, nicht meine Schuld;
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wir hatten beide nichts als Geduld,
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aber der Tod hat keine.
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Ich sah ihn kommen (wie schlecht er kam),
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und ich schaute ihm zu wie er nahm und nahm:
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es war ja gar nicht das Meine.
 
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Was war denn das Meine; Meines, Mein?
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War mir nicht selbst mein Elendsein
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nur vom Schicksal geliehn?
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Das Schicksal will nicht nur das Glück,
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es will die Pein und das Schrein zurück
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und es kauft für alt den Ruin.
 
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Das Schicksal war da und erwarb für ein Nichts
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jeden Ausdruck meines Gesichts
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bis auf die Art zu gehn.
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Das war ein täglicher Ausverkauf
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und als ich leer war, gab es mich auf
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und ließ mich offen stehn.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.9 KB)

Details zum Gedicht „Das Lied der Witwe“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
26
Anzahl Wörter
175
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das präsentierte Gedicht ist „Das Lied der Witwe“ von Rainer Maria Rilke, einem der bedeutendsten Lyriker der deutschen Sprache. Rilke lebte von 1875 bis 1926, so dass das Gedicht vermutlich in dieser Zeit verfasst wurde. Der erste Eindruck des Gedichts wirkt melancholisch und reflektiert.

Der Inhalt des Gedichts dreht sich um das Leben einer Witwe, die ihre Jugend, ihren Partner und letztendlich ihre Identität verloren hat. Das lyrische Ich betrachtet die euphorische Jugend mit einer gewissen Wehmut, da das Leben sie nicht darauf vorbereitet hat, was kommen sollte. Sie bekennt, dass das Leben sie nicht mehr warm hält oder ihren Mut stärkt, dass die Jahre sie desillusioniert haben.

In der zweiten Strophe erwähnt das lyrische Ich den Tod ihres Partners, schildert sie ihn als unausweichlich und unerbittlich. Es bringt einen allgemeinen Verlust zum Ausdruck, der über den individuellen Schmerz hinausgeht.

Die dritte und vierte Strophe vermitteln einen erschütternden Verlust der Selbstidentität, wobei das lyrische Ich von dem Gefühl spricht, dass auch sein Elend und sein Leid nicht wirklich ihr eigen sind, sondern vom Schicksal verliehen wurden. Sie beschreibt, wie das Schicksal ihr Gesicht, ihre Art zu gehen und schließlich ihr gesamtes Selbst erworben hat. Sie fühlt sich schließlich leer und verlassen.

Hinsichtlich der Form und Sprache des Gedichts besitzt das Gedicht keine durchgehende metrische Struktur und nutzt eine eher freie Form. Die Wortwahl ist relativ einfach und gradlinig, was zur Verständlichkeit des Gedichts beiträgt. Die Sprache ist gefüllt mit lebendigen und emotionalen Bildern, die das lyrische Ich nutzt, um die Abwesenheit von etwas zu beschreiben, sei es Wärme, Liebe, Mut oder Identität. Es ist ein klares Spiel mit Kontrastfarben und -ereignisse, was die emotionalen Höhen und Tiefen des lyrischen Ichs effektiv vermittelt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das Lied der Witwe“ des Autors Rainer Maria Rilke. Rilke wurde im Jahr 1875 in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1906 entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin / Leipzig, Stuttgart. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 175 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 26 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rainer Maria Rilke sind „Abend in Skaane“, „Absaloms Abfall“ und „Adam“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Lied der Witwe“ weitere 338 Gedichte vor.

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