Geburt der Venus von Rainer Maria Rilke
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An diesem Morgen nach der Nacht, die bang |
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vergangen war mit Rufen, Unruh, Aufruhr, |
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brach alles Meer noch einmal auf und schrie. |
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Und als der Schrei sich langsam wieder schloß |
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und von der Himmel blassem Tag und Anfang |
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herabfiel in der stummen Fische Abgrund -: |
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gebar das Meer. |
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Von erster Sonne schimmerte der Haarschaum |
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der weiten Wogenscham, an deren Rand |
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das Mädchen aufstand, weiß, verwirrt und feucht. |
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So wie ein junges grünes Blatt sich rührt, |
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sich reckt und Eingerolltes langsam aufschlägt, |
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entfaltete ihr Leib sich in die Kühle |
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hinein und in den unberührten Frühwind. |
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Wie Monde stiegen klar die Kniee auf |
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und tauchten in der Schenkel Wolkenränder; |
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der Waden schmaler Schatten wich zurück, |
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die Füße spannten sich und wurden licht, |
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und die Gelenke lebten wie die Kehlen |
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von Trinkenden. |
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Und in dem Kelch des Beckens lag der Leib |
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wie eine junge Frucht in eines Kindes Hand. |
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In seines Nabels engem Becher war |
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das ganze Dunkel dieses hellen Lebens. |
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Darunter hob sich licht die kleine Welle |
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und floß beständig über nach den Lenden, |
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wo dann und wann ein stilles Rieseln war. |
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Durchschienen aber und noch ohne Schatten, |
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wie ein Bestand von Birken im April, |
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warm, leer und unverborgen, lag die Scham. |
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Jetzt stand der Schultern rege Waage schon |
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im Gleichgewichte auf dem graden Körper, |
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der aus dem Becken wie ein Springbrunn aufstieg |
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und zögernd in den langen Armen abfiel |
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und rascher in dem vollen Fall des Haars. |
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Dann ging sehr langsam das Gesicht vorbei: |
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aus dem verkürzten Dunkel seiner Neigung |
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in klares, waagrechtes Erhobensein. |
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Und hinter ihm verschloß sich steil das Kinn. |
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Jetzt, da der Hals gestreckt war wie ein Strahl |
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und wie ein Blumenstiel, darin der Saft steigt, |
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streckten sich auch die Arme aus wie Hälse |
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von Schwänen, wenn sie nach dem Ufer suchen. |
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Dann kam in dieses Leibes dunkle Frühe |
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wie Morgenwind der erste Atemzug. |
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Im zartesten Geäst der Aderbäume |
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entstand ein Flüstern, und das Blut begann |
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zu rauschen über seinen tiefen Stellen. |
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Und dieser Wind wuchs an: nun warf er sich |
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mit allem Atem in die neuen Brüste |
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und füllte sie und drückte sich in sie, |
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daß sie wie Segel, von der Ferne voll, |
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das leichte Mädchen nach dem Strande drängten. |
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So landete die Göttin. |
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Hinter ihr, |
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die rasch dahinschritt durch die jungen Ufer, |
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erhoben sich den ganzen Vormittag |
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die Blumen und die Halme, warm, verwirrt, |
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wie aus Umarmung. Und sie ging und lief. |
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Am Mittag aber, in der schwersten Stunde, |
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hob sich das Meer noch einmal auf und warf |
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einen Delphin an jene selbe Stelle. |
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Tot, rot und offen. |
Details zum Gedicht „Geburt der Venus“
Rainer Maria Rilke
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422
1875 - 1926
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Geburt der Venus“, wurde von Rainer Maria Rilke, einem der bedeutendsten literarischen Persönlichkeiten zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, geschrieben. Das Gedicht ist eine detailreiche und lyrische Darstellung der schöpferischen Kraft der Natur und der Geburt der Göttin Venus aus dem Meer, ein Motiv das aus der griechischen Mythologie stammt.
Beim ersten Lesen fällt auf, wie sorgfältig und gewissenhaft Rilke die verschiedenen Elemente der Geburtszene durchspielt. Jede Strophe beschreibt einen anderen Aspekt von Venus' Entstehung und das Bild, das er zeichnet, wird mit jedem Vers klarer und konkreter.
Laut der ersten Strophe hat sich das Meer mit Schrecken und Chaos in der Nacht aufgetan, doch mit dem Anbrechen des Tages und der beruhigenden Stille hat es ein Leben hervorgebracht - Venus. Sie erhebt sich aus dem Meer, noch verwirrt und unschuldig. Ihr Körper beginnt sich langsam zu entfalten und sich in den Wind zu strecken (Strophe 2).
Die folgenden Strophen beschreiben mit dichterischer Genauigkeit den Körper von Venus. Sie ist feminin und schön, und ihr Körper entfaltet sich harmonisch und natürlich. Rilke vergleicht ihren Körper mit Blättern und Birken, Naturbildern, die zu seinem allgemeinen Bild von Venus als Produkt und Inbegriff der natürlichen Welt beitragen.
Die letzte Strophe endet tragisch mit dem Wurf eines toten Delfins an denselben Ort, wo Venus geboren wurde. Es ist eine düstere Erinnerung an die Sterblichkeit und die Gefahren der Natur, die einen Kontrast zu der Schönheit und Brillanz von Venus' Geburt bildet.
Formal ist das Gedicht freier Natur und folgt keiner strikten Reimstruktur, was Rilke erlaubt, seine Beschreibungen zu entfalten und sich Zeit zu nehmen, um jedes Detail von Venus' Geburt hervorzuheben. Trotz der Abwesenheit des Reims fließt die Sprache des Gedichts mit Rhythmik und Klangfülle, die das Zuhören und Vorlesen zu einem Genuss machen.
Die Sprache des Gedichts ist sinnlich und bildhaft. Wortwahl und Metaphern beziehen sich auf die Natur und tragen zur Schaffung eines lebendigen und organischen Bildes von Venus bei. Gleichzeitig verwendet Rilke eine gehobene Sprache, die dem erhabenen Thema des Gedichts angemessen ist und einen gewissen Grad an formeller Schönheit bewahrt.
Insgesamt ist „Geburt der Venus“ ein lebhaftes und detailliertes Porträt der schöpferischen und zerstörerischen Naturkräfte. Rilke feiert die Schönheit und Kraft der Natur und erinnert uns gleichzeitig daran, wie vergänglich und unvorhersehbar sie sein kann.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Geburt der Venus“ ist Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Im Zeitraum zwischen 1891 und 1926 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Bei Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 63 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 422 Worte. Weitere Werke des Dichters Rainer Maria Rilke sind „Abend“, „Abend“ und „Abend“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Geburt der Venus“ weitere 338 Gedichte vor.
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