Das Geheimniß der Reminiszenz von Friedrich Schiller

An Laura

Ewig starr an Deinem Mund zu hangen,
Wer enträzelt dieses Wutverlangen?
Wer die Wollust, Deinen Hauch zu trinken,
In Dein Wesen, wenn sich Blike winken,
Sterbend zu versinken?
 
Fliehen nicht verrätherisch, – wie Sklaven,
Weggeworfen faigen Muths die Waffen, –
Meine Geister, hin im Augenblike,
Stürmend über meines Lebens Brüke,
10 
Wenn ich Dich erblike?
 
11 
Sprich, warum entlaufen sie dem Meister?
12 
Suchen dort die Heimat meine Geister?
13 
Oder küssen die getrennten Brüder,
14 
Losgeraft vom Kettenband der Glieder,
15 
Dort bei Dir sich wieder? –
 
16 
Laura? träum’ ich? ras’ ich? – die Gedanken
17 
Ueberwirbeln des Verstandes Schranken –
18 
Sieh! der Wahnsinn ist des Räzels kunder,
19 
Staune Weisheit auf des Wahnsinns Wunder
20 
Neidischbleich herunter.
 
21 
Waren unsre Wesen schon verflochten?
22 
War es darum, daß die Herzen pochten?
23 
Waren wir im Stral erloschner Sonnen
24 
In den Tagen lang begrabner Wonnen,
25 
Schon in Eins zerronnen?
 
26 
Ja wir warens – Eins mit Deinem Dichter
27 
Warst du Laura – warst ein Weltzernichter! –
28 
Meine Muse sah es auf der trüben
29 
Tafel der Vergangenheit geschrieben:
30 
Eins mit deinem Lieben!
 
31 
Aber ach! – die sel’gen Augenblike
32 
Weinen leiser in mein Ohr zurüke –
33 
Könnten Grolls die Gottheit Sünder schelten,
34 
Laura – den Monarchen aller Welten
35 
Würd’ ich Neides schelten.
 
36 
Aus den Angeln drehten wir Planeten,
37 
Badeten in lichten Morgenröthen,
38 
In den Loken spielten Edens Düfte,
39 
Und den Silbergürtel unsrer Hüfte
40 
Wiegten Mayenlüfte.
 
41 
Uns entgegen gossen Nektarquellen
42 
Tausendrörigt ihre Wollustwellen,
43 
Unserm Winke sprangen Chaosriegel,
44 
Zu der Wahrheit lichtem Sonnenhügel
45 
Schwang sich unser Flügel.
 
46 
Unsern Augen riss’ der Dinge Schleyer,
47 
Unsre Blike, flammender und freyer,
48 
Sahen in der Schöpfung Labyrinthen,
49 
Wo die Augen Lyonets verblinden,
50 
Sich noch Räder winden –
 
51 
Tief o Laura unter jener Wonne
52 
Wälzte sich des Glükes Nietentonne,
53 
Schweifend durch der Wollust weite Lande
54 
Warfen wir der Sätt’gung Ankerbande
55 
Ewig nie am Strande –
 
56 
Weine Laura – dieser Gott ist nimmer,
57 
Du und ich des Gottes schöne Trümmer,
58 
Und in uns ein unersättlich Drängen
59 
Das verlorne Wesen einzuschlingen,
60 
Gottheit zu erschwingen.
 
61 
Darum Laura dieses Wutverlangen,
62 
Ewig starr an deinem Mund zu hangen,
63 
Und die Wollust, deinen Hauch zu trinken,
64 
In dein Wesen, wenn sich Blike winken,
65 
Sterbend zu versinken.
 
66 
Darum fliehn, verrätherisch, wie Sklaven,
67 
Weggeworfen faigen Muts die Waffen,
68 
Meine Geister, hin im Augenblike!
69 
Stürmend über meines Lebens Brüke,
70 
Wenn ich Dich erblike!
 
71 
Darum nur entlaufen sie dem Meister,
72 
Ihre Heimat suchen meine Geister,
73 
Losgeraft vom Kettenband der Glieder,
74 
Küssen sich die langgetrennten Brüder
75 
Wiederkennend wieder.
 
76 
Töne! Flammen! zitterndes Entzüken!
77 
Wesen lechzt an Wesen anzurüken –
78 
Wie, beim Anblik einer Freundsgaleere,
79 
Friedensflaggen im Ostindermeere
80 
Wehen lassen Heere;
 
81 
Aufgejagt von froher Pulverweke,
82 
Springt das Schiffsvolk freudig auf’s Verdeke,
83 
Hoch im Winde schwingen sie die Hüte,
84 
Posidaons woogendes Gebiete
85 
Drönt von ihrem Liede. –
 
86 
War es nicht dis freudige Entsezen,
87 
Als mir’s ward an Lauren mich zu lezen?
88 
Ha! das Blut, voll wütendem Verlangen,
89 
Drängte sich muthwillig zu den Wangen,
90 
Lauren zu empfangen –
 
91 
Und auch Du – da mich dein Auge spähte,
92 
Was verrieth der Wangen Morgenröthe? – –
93 
Floh’n wir nicht als wären wir verwandter,
94 
Freudig, wie zur Heimat ein Verbannter,
95 
Brennend an einander? –
 
96 
Sieh, o Laura, deinen Dichter weinen! –
97 
Wie verlor’ne Sterne wieder scheinen,
98 
Flimmen öfters, flüchtig, gleich dem Blize,
99 
Traurigmahnend an die Göttersize,
100 
Stralen durch die Rize –
 
101 
Oftmals lispeln der Empfindung Saiten
102 
Leise Ahndung jener goldnen Zeiten –
103 
Wenn sich schüchtern unsre Augen grüsen,
104 
Seh ich träumend in den Paradiesen
105 
Nektarströme fliesen. –
 
106 
Ach zu oft nur waffn’ ich meine Mächte,
107 
Zu erobern die verlornen Rechte –
108 
Klimme kühner bis zur Nektarquelle,
109 
Poche siegend an des Himmels Schwelle, –
110 
Taumle rük zur Hölle!
 
111 
Wenn dein Dichter sich an deine süsen
112 
Lippen klammert mit berauschten Küssen,
113 
Fremde Töne um die Ohren schwirren,
114 
Unsre Wesen aus den Fugen irren
115 
Strudelnd sich verwirren,
 
116 
Und verkauft vom Meineid der Vasallen
117 
Unsre Seelen ihrer Welt entfallen,
118 
Mit des Staubs Tyrannensteuer pralen,
119 
Tod und Leben zu wollüstgen Qualen
120 
Gaukeln in den Schaalen.
 
121 
Und wir beide – näher schon den Göttern –
122 
Auf der Wonne gähe Spize klettern,
123 
Mit den Leibern sich die Geister zanken,
124 
Und der Endlichkeit despotsche Schranken –
125 
Sterbend – überschwanken –
 
126 
Waren, Laura, diese Lustsekunden
127 
Nicht ein Diebstal jener Götterstunden?
128 
Nicht Entzüken, die uns einst durchfuhren?
129 
Ineinanderzukender Naturen,
130 
Ach! nur matte Spuren?
 
131 
Hat dir nicht ein Stral zurükgeglostet?
132 
Hast du nicht den Göttertrank gekostet? –
133 
Ach! ich sah den Purpur deiner Wangen! –
134 
War es doch der Wesen die sich schlangen
135 
Eitles Unterfangen! – –
 
136 
Laura – majestätisch anzuschauen
137 
Stand ein Baum in Edens Blumenauen;
138 
„Seine Frucht vernein’ ich eurem Gaume,
139 
„Wißt! der Apfel an dem Wunderbaume
140 
„Labt – mit Göttertraume.“
 
141 
Laura – weine unsers Glükes Wunde! –
142 
Saftig war der Apfel ihrem Munde – – –
143 
Bald – als sie sich Unschuldsvoll umrollten –
144 
Sieh! – wie Flammen ihr Gesicht vergoldten! –
145 
– Und die Teufel schmollten.

Details zum Gedicht „Das Geheimniß der Reminiszenz“

Anzahl Strophen
29
Anzahl Verse
145
Anzahl Wörter
748
Entstehungsjahr
1782
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Das Geheimniß der Reminiszenz“ wurde von Friedrich Schiller, einem bedeutenden deutschsprachigen Dichter der Weimarer Klassik, verfasst. Schiller lebte von 1759 bis 1805, was das Gedicht in die späte Aufklärung bzw. frühe Romantik einordnet.

Bei der ersten Lektüre fällt auf, dass das Gedicht sehr lang ist und eine komplexe, teilweise verschlüsselte Sprache verwendet. Es wird sofort deutlich, dass es eine tiefe Leidenschaft und eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zum Ausdruck bringt.

Inhaltlich richtet sich das lyrische Ich an eine Frau namens Laura und bezieht seine Reflexionen auf ein gemeinsames vergangenes und gegenwärtiges Erleben. Es ist geprägt von einer starken Vergangenheitssehnsucht, die mit Wut, Wahnsinn und Passion einhergeht. Zudem wird das Thema Wiederauferstehung oder Wiederbelebung auf emotionaler Ebene angesprochen und das lyrische Ich bringt seine Enttäuschung und Verzweiflung über den Verlust der früheren Einheit und Unschuld zum Ausdruck.

Das Gedicht hat eine strenge Form mit jeweils fünf Versen pro Strophe und insgesamt 29 Strophen. Es besticht durch eine reiche und fantastische Bildsprache, die von der Sehnsucht nach einer vergangenen, glorreichen Zeit zeugt. Dabei bedient Schiller sich altertümlicher und biblischer Anspielungen, etwa wenn er von dem Baum in Edens Blumenauen spricht oder von dem Apfel, der mit Göttertraum labt - eine klare Anspielung auf die biblische Erzählung von Adam und Eva. Die Sprache ist gehoben und manchmal altertümlich, etwa durch den Gebrauch von alter Rechtschreibung und veralteten Begriffen.

Anhand der wiederkehrenden Motive der Vergangenheit, der verlorenen Unschuld und des leidenschaftlichen Verlangens zeigt das Gedicht eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit und dem Vergessen. Es ist ein sehnsuchtsvolles Ringen um Erkenntnis und Verständnis, um Traum und Wirklichkeit, um Vergangenheit und Gegenwart. Dabei stellt Schiller die Frage nach dem Sinn des Daseins und nach der Möglichkeit einer Rückkehr zu einem paradiesischen Zustand der Unschuld und Einheit.

Weitere Informationen

Friedrich Schiller ist der Autor des Gedichtes „Das Geheimniß der Reminiszenz“. Im Jahr 1759 wurde Schiller in Marbach am Neckar, Württemberg geboren. Im Jahr 1782 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Stuttgart. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei Schiller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Als Sturm und Drang (auch Genieperiode oder Geniezeit) bezeichnet man eine Literaturepoche, die auf die Jahre 1765 bis 1790 datiert werden kann. Sie knüpfte an die Empfindsamkeit an und ging später in die Klassik über. Der Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich aber auch gegen das Bürgertum, das als eng und freudlos galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest der Epoche des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um Schriftsteller jüngeren Alters. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik war geprägt durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Die Weimarer Klassik wird häufig nur als Klassik bezeichnet. Beide Bezeichnungen sind in der Literatur gebräuchlich. Die Klassik geht von einer Erziehbarkeit des Individuums zum Guten aus. Ihr Bestreben ist die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Die Dichter der Klassik gingen davon aus, dass Gott den Menschen Vernunft und Gefühle gibt und die Menschen damit dem Leben einen Sinn geben. Das Individuum ist also von höheren Mächten bestimmt. In der Lyrik haben die Dichter auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Beispielsweise war so die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders beliebt. Darüber hinaus verwendeten die Autoren eine pathetische, gehobene Sprache. Die bekanntesten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Andere Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Die beiden letztgenannten arbeiteten aber jeweils für sich. Einen konstruktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Schiller und Goethe.

Das 748 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 145 Versen mit insgesamt 29 Strophen. Der Dichter Friedrich Schiller ist auch der Autor für Gedichte wie „An Minna“, „An den Frühling“ und „An die Gesetzgeber“. Zum Autor des Gedichtes „Das Geheimniß der Reminiszenz“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 220 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Friedrich Schiller

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Friedrich Schiller und seinem Gedicht „Das Geheimniß der Reminiszenz“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Friedrich Schiller (Infos zum Autor)

Zum Autor Friedrich Schiller sind auf abi-pur.de 220 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.