Im Zeichen des Todes von Theodor Storm

Noch war die Jugend mein, die schöne, ganze,
Ein Morgen nur, ein Gestern gab es nicht;
Da sah der Tod im hellsten Sonnenglanze,
Mein Haar berührend, mir ins Angesicht.
 
Die Welt erlosch, der Himmel brannte trübe;
Ich sprang empor entsetzt und ungestüm.
Doch er verschwand; die Ewigkeit der Liebe
Lag vor mir noch und trennte mich von ihm.
 
Und heute nun - im sonnigen Gemache
10 
Zur Rechten und zur Linken schlief mein Kind;
11 
Des zarten Atems lauschend, hielt ich Wache,
12 
Und an den Fenstern ging der Sommerwind.
 
13 
Da sanken Nebelschleier dicht und dichter
14 
Auf mich herab; kaum schienen noch hervor
15 
Der Kinder schlummerselige Gesichter,
16 
Und nicht mehr drang ihr Atem an mein Ohr.
 
17 
Ich wollte rufen; doch die Stimme keuchte,
18 
Bis hell die Angst aus meinem Herzen schrie.
19 
Vergebens doch; kein Schrei der Angst erreichte,
20 
Kein Laut der Liebe mehr erreichte sie.
 
21 
In grauer Finsternis stand ich verlassen,
22 
Bewegungslos und schauernden Gebeins;
23 
Ich fühlte kalt mein schlagend Herz erfassen,
24 
Und ein entsetzlich Auge sank in meins.
 
25 
Ich floh nicht mehr; ich fesselte das Grauen
26 
Und faßte mühsam meines Auges Kraft;
27 
Dann überkam vorahnend mich Vertrauen
28 
Zu dem, der meine Sinne hielt in Haft.
 
29 
Und als ich fest den Blick zurückgegeben,
30 
Lag plötzlich tief zu Füßen mir die Welt;
31 
Ich sah mich hoch und frei ob allem Leben
32 
An deiner Hand, furchtbarer Fürst, gestellt.
 
33 
Den Dampf der Erde sah empor ich streben
34 
Und ballen sich zu Mensch- und Tiergestalt;
35 
Sah es sich schütteln, tasten, sah es leben
36 
Und taumeln dann und schwinden alsobald.
 
37 
Im fahlen Schein im Abgrund sah ich's liegen
38 
Und sah sich's regen in der Städte Rauch;
39 
Ich sah es wimmeln, hasten, sich bekriegen
40 
Und sah mich selbst bei den Gestalten auch.
 
41 
Und niederschauend von des Todes Warte,
42 
Kam mir der Drang, das Leben zu bestehn,
43 
Die Lust, dem Feind, der unten meiner harrte,
44 
Mit vollem Aug ins Angesicht zu sehn.
 
45 
Und kühlen Hauches durch die Adern rinnen
46 
Fühlt ich die Kraft, entgegen Lust und Schmerz
47 
Vom Leben fest mich selber zu gewinnen,
48 
Wenn andres nicht, so doch ein ganzes Herz.
 
49 
Da fühlt ich mich im Sonnenlicht erwachen;
50 
Es dämmerte, verschwebte und zerrann;
51 
In meine Ohren klang der Kinder Lachen,
52 
Und frische, blaue Augen sahn mich an.
 
53 
O schöne Welt! So sei in ernstem Zeichen
54 
Begonnen denn der neue Lebenstag!
55 
Es wird die Stirn nicht allzusehr erbleichen,
56 
Auf der, o Tod, dein dunkles Auge lag.
 
57 
Ich fühle tief, du gönnetest nicht allen
58 
Dein Angesicht; sie schauen dich ja nur,
59 
Wenn sie dir taumelnd in die Arme fallen,
60 
Ihr Los erfüllend gleich der Kreatur.
 
61 
Mich aber laß unirren Augs erblicken,
62 
Wie sie, von keiner Ahnung angeweht,
63 
Brutalen Sinns ihr nichtig Werk beschicken,
64 
Unkundig deiner stillen Majestät.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.8 KB)

Details zum Gedicht „Im Zeichen des Todes“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
446
Entstehungsjahr
1817 - 1888
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht wurde vom deutschen Schriftsteller Theodor Storm (*14. September 1817, † 4. Juli 1888) verfasst, der für seine Novellen und Gedichte aus der Epoche des poetischen Realismus berühmt ist.

Beim ersten Eindruck scheint das Hauptthema dieses Gedichts die Auseinandersetzung mit dem Tod zu sein, wobei das lyrische Ich auch mit der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert wird. Es gibt einen starken emotionalen Kontrast in den Erlebnissen des lyrischen Ichs, von früher Jugend, über die Bedrohung des Todes, hinzu der Erkenntnis seines unvermeidlichen Anfalls.

Inhaltlich erzählt das Gedicht die Geschichte des lyrischen Ichs, das sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wird. In seiner Jugend, als der Tod fern und wirkungslos erschien, wird es plötzlich mit der brutalen Realität der Endlichkeit konfrontiert. Diese Erfahrung versetzt das lyrische Ich in eine tiefe Krise, doch das Bewusstsein für die Ewigkeit der Liebe gibt ihm Kraft. Jahre später, umgeben von der Schönheit des Lebens und dem Lachen seiner Kinder, taucht der Tod wieder auf und versucht, ihn zu erlösen. Das lyrische Ich steht jedoch dem Tod mutig stand und entwickelt eine tiefe Wertschätzung für das Leben.

Das Gedicht ist in vierzeiligen Strophen verfasst, was typisch für die Gedichte Theodor Storms ist. Die verwendete Sprache ist bildlich und symbolisch, mit einer starken Emotionsschärfe. Das lyrische Ich benutzt lebendige Metaphern, um seine Empfindungen zu beschreiben, wie zum Beispiel „die Welt erlosch“ oder „der Himmel brannte trübe“, was seine innere Verwirrung und Angst widerspiegelt.

Obwohl die Dunkelheit und Todessymbolik eine bedrückende Stimmung schaffen könnten, endet das Gedicht auf einer positiven und hoffnungsvollen Note, in der das lyrische Ich seine Bereitschaft ausdrückt, den Tod zu konfrontieren und das Leben zu schätzen. Die letzte Strophe drückt auch eine Art Elitismus oder Überlegenheit des lyrischen Ichs aus, das sich gegenüber den „brutalen“ und „nichtigen“ Kreaturen, die sich nicht bewusst sind, dass sie sterben werden, differenziert. Das stellt eine Wendepunkt dar, in der statt der Angst vor dem Tod, eine gewisse Arroganz und Herablassung gegenüber denen hervortritt, die sich des Todes nicht bewusst sind.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Theodor Storms Gedicht „Im Zeichen des Todes“ eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit darstellt, in der das lyrische Ich zunächst von Angst und Verwirrung geprägt ist, später jedoch eine Wertschätzung für das Leben entwickelt und sich bereit zeigt, den Tod mutig entgegenzutreten.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Im Zeichen des Todes“ des Autors Theodor Storm. Der Autor Theodor Storm wurde 1817 in Husum geboren. Zwischen den Jahren 1833 und 1888 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Realismus zuordnen. Bei Storm handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 64 Versen mit insgesamt 16 Strophen und umfasst dabei 446 Worte. Theodor Storm ist auch der Autor für Gedichte wie „Juli“, „Knecht Ruprecht“ und „Käuzlein“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Im Zeichen des Todes“ weitere 131 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Theodor Storm

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Theodor Storm und seinem Gedicht „Im Zeichen des Todes“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Theodor Storm (Infos zum Autor)

Zum Autor Theodor Storm sind auf abi-pur.de 131 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.