Ein Sterbender von Theodor Storm
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Am Fenster sitzt er, alt, gebrochnen Leibes, |
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Und trommelt müßig an die feuchten Scheiben; |
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Grau ist der Wintertag und grau sein Haar. |
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Mitunter auch besieht er aufmerksam |
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Der Adern Hüpfen auf der welken Hand. |
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Es geht zu Ende; ratlos irrt sein Aug |
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Von Tisch zu Tisch, drauf Schriftwerk aller Art, |
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Sein harrend, hoch und höher sich getürmt. |
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Vergebens! Was er täglich sonst bezwang, |
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Es ward ein Berg; er kommt nicht mehr hinüber. |
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Und dennoch, wenn auch trübe, lächelt er |
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Und sucht wie sonst noch mit sich selbst zu scherzen; |
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Ein Aktenstoß, in tücht'gen Stein gehauen, |
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Es dünket ihn kein übel Epitaph. |
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Doch streng aufs neue schließet sich sein Mund; |
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Er kehrt sich ab, und wieder mit den grellen |
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Pupillen starrt er in die öde Luft |
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Und trommelt weiter an die Fensterscheiben. |
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Da wird es plötzlich hell; ein bleicher Strahl |
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Der Wintersonne leuchtet ins Gemach |
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Und auf ein Bild genüber an der Wand. |
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Und aus dem Rahmen tritt ein Mädchenkopf, |
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Darauf wie Frühtau noch die Jugend liegt; |
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Aus großen, hold erstaunten Augen sprüht |
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Verheißung aller Erdenseligkeit. |
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Er kennt das Wort auf diesen roten Lippen, |
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Er nur allein. Erinnrung faßt ihn an; |
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Fata Morgana steigen auf betörend; |
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Lau wird die Luft - wie hold die Düfte wehen! |
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Mit Rosen ist der Garten überschüttet, |
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Auf allen Büschen liegt der Sonnenschein. |
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Die Bienen summen; und ein Mädchenlachen |
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Fliegt süß und silbern durch den Sommertag. |
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Sein Ohr ist trunken. »Oh, nur einmal noch!« |
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Er lauscht umsonst, und seufzend sinkt sein Haupt. |
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»Du starbst - Wo bist du? - Gibt es eine Stelle |
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Noch irgendwo im Weltraum, wo du bist? |
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Denn daß du mein gewesen, daß das Weib |
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Dem Manne gab der unbekannte Gott |
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Ach dieser unergründlich süße Trunk, |
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Und süßer stets, je länger du ihn trinkst, |
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Er läßt mich zweifeln an Unsterblichkeit; |
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Denn alle Bitternis und Not des Lebens |
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Vergilt er tausendfach; und drüberhin |
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Zu hoffen, zu verlangen weiß ich nichts!« |
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In leere Luft ausstreckt er seine Arme: |
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»Hier diese Räume, wo du einst gelebt, |
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Erfüllt ein Schimmer deiner Schönheit noch; |
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Nur mir erkennbar; wenn auch meine Augen |
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Geschlossen sind, von keinem dann gesehn.« |
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Vor ihm mit dunklem Weine steht ein Glas, |
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Und zitternd langet seine Hand danach; |
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Er schlürft ihn langsam, aber auch der Wein |
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Erfreut nicht mehr sein Herz. Er stützt das Haupt. |
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»Einschlafen, fühl ich, will das Ding, die Seele, |
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Und näher kommt die rätselhafte Nacht!« |
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Ihm unbewußt entfliehen die Gedanken |
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Und jagen sich im unermeßnen Raum. |
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Da steigt Gesang, als wollt's ihn aufwärts tragen; |
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Von drüben aus der Kirche schwillt der Chor. |
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Und mit dem innern Auge sieht er sie, |
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So Mann als Weib, am Stamm des Kreuzes liegen. |
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Sie blicken in die bodenlose Nacht; |
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Doch ihre Augen leuchten feucht verklärt, |
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Als sähen sie im Urquell dort des Lichts |
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Das Leben jung und rosig auferstehn. |
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»Sie träumen«, spricht er - leise spricht er es |
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»Und diese bunten Bilder sind ihr Glück. |
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Ich aber weiß es, daß die Todesangst |
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Sie im Gehirn der Menschen ausgebrütet.« |
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Abwehrend streckt er seine Hände aus: |
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»Was ich gefehlt, des einen bin ich frei; |
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Gefangen gab ich niemals die Vernunft, |
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Auch um die lockendste Verheißung nicht; |
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Was übrig ist - ich harre in Geduld.« |
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Mit klaren Augen schaut der Greis umher; |
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Und während tiefer schon die Schatten fallen, |
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Erhebt er sich und schleicht von Stuhl zu Stuhl, |
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Und setzt sich noch einmal dort an den Tisch, |
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Wo ihm so manche Nacht die Lampe schien. |
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Noch einmal schreibt er; doch die Feder sträubt sich; |
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Sie, die bisher dem Leben nur gedient, |
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Sie will nicht gehen in den Dienst des Todes; |
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Er aber zwingt sie, denn sein Wille soll |
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So weit noch reichen, als er es vermag. |
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Die Wanduhr mißt mit hartem Pendelschlag, |
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Als dränge sie, die fliehenden Sekunden; |
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Sein Auge dunkelt; ungesehen naht, |
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Was ihm die Feder aus den Fingern nimmt. |
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Doch schreibt er mühsam noch in großen Zügen, |
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Und Dämmrung fällt wie Asche auf die Schrift: |
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»Auch bleib der Priester meinem Grabe fern; |
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Zwar sind es Worte, die der Wind verweht, |
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Doch will es sich nicht schicken, daß Protest |
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Gepredigt werde dem, was ich gewesen, |
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Indes ich ruh im Bann des ew'gen Schweigens.« |
Details zum Gedicht „Ein Sterbender“
Theodor Storm
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1817 - 1888
Realismus
Gedicht-Analyse
Das vorliegende Gedicht „Ein Sterbender“ wurde von Theodor Storm verfasst, einem der wichtigsten Vertreter des deutschen Realismus im 19. Jahrhundert. Storms Hauptwerkzeit lässt sich um die Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einordnen. Das Gedicht erweckt auf den ersten Blick einen düsteren und schwermütigen Eindruck.
Es erzählt die Geschichte eines sterbenden Mannes, der sich seiner Vergangenheit und seinem bevorstehenden Tod bewusst ist. Im ersten Strophenblock wird der alt und krank wirkende Mann, der allein in seinem Arbeitszimmer sitzt, vorgestellt. Er scheint sich nicht mehr in der Lage zu intuitieren, die angesammelten Schriften und Akten zu bewältigen, dennoch versucht er, weiterhin humorvoll zu sein. Der zweite Block beschreibt die Erinnerung des Mannes an eine geliebte Frau, möglicherweise eine verstorbene Partnerin. Die dritte Strophe zeigt, wie der Mann zu seiner atheistischen Auffassung steht und die gängige Vorstellung von einem Leben nach dem Tode ablehnt. Der vierte Block zeigt die letzten Momente des Mannes, als er seine letzten Wünsche aufschreibt, bevor der Tod ihn einholt.
Inhaltlich zeigt das Gedicht die Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit dem unausweichlichen Tod und der Vergänglichkeit. Es wird reflektiert, was das Leben wertvoll machte und welche Rolle die Vernunft dabei spielt. Am Ende verbleibt der Protagonist bei seiner vernunftgestützten Haltung, die ein Jenseits verneint und auf die diesseitige Existenz fokussiert ist.
Formal betrachtet ist das Gedicht in vier Strophen mit unterschiedlicher Versanzahl organisiert. Die Verse haben dabei keine einheitliche Länge und das Reimschema ist frei. Storm benutzt eine eher schlichte Sprache und verzichtet auf ausgefallene Metaphern oder Symbolik. Sein Augenmerk liegt klar auf der Darstellung der Lebenswelt seines Protagonisten, in deren Fokus der Tod, die Erinnerung an die Vergangenheit sowie der Umgang des Einzelnen damit steht. Dabei stützt Storm sich auf eine naturnahe und wirklichkeitsgetreue Darstellung, passend zur literaturhistorischen Epoche des Realismus. Die einzelnen Bilder, wie die des einsamen, am Fenster sitzenden Mannes oder die des erinnernden Blicks auf das Bild einer geliebten Frau, werden detailliert und lebensnah beschrieben. Diese detaillierten Beschreibungen und der natürliche Ton tragen zusammen zu einem Bild von Tod und Lebensende bei, das von Würde und Ehrfurcht geprägt ist.
Im Ganzen zeichnet „Ein Sterbender“ ein Bild eines bewusst und ruhig Sterbenden, der trotz der Dunkelheit seiner Situation eine gewisse Würde und Ruhe bewahrt. Storm nimmt in seinem Gedicht eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Lebensende vor, die sowohl tragisch als auch auf eine eigentümliche Weise erhebend ist.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Ein Sterbender“ ist Theodor Storm. Geboren wurde Storm im Jahr 1817 in Husum. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1833 und 1888. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Bei dem Schriftsteller Storm handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 686 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 96 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Die Gedichte „Loose“, „Oktoberlied“ und „Von Katzen“ sind weitere Werke des Autors Theodor Storm. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Ein Sterbender“ weitere 131 Gedichte vor.
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