Der Befreite von Karoline Marie Luise Brachmann

Blühend standen die Orangenhaine
In des Königsgartens Lustgebiet,
Und die Mandeln und die Rosen alle,
Und am Springquell und am Wasserfalle
War der ganze Blumenflor entglüht.
 
Doch was ist des Lebens höchste Fülle
Ohne Freuden süßer Harmonie?
Bagdad's Herrscher saß im goldnen Saale
Mäßig, leer beim üppig reichem Mahle,
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Weil ihm nichts des Lebens Geist verlieh.
 
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Horch, da klang der Zauber mächt'ger Saiten
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Von dem Eingang, weckend Muth und Lust;
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Und ein Sänger naht in fremder Hülle,
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Glanzlos, schon ergrauend, doch die Fülle
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Süßen Wohllauts wohnt in seiner Brust.
 
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Wonne stieg in alle Herzen nieder
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Bei des Liedes Himmelsmelodie.
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»Fordre, süßer Sänger!« rief der König;
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»Jeder Lohn ist deiner Kunst zu wenig.
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Nur zu scheiden, Fremdling, denke nie!«
 
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»Du gebeut'st, o König!« sprach der Sänger,
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»Wohl, ein volles Jahr verweil' ich hier,
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Aber jetzt in deiner Großen Mitte,
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Schwöre mir Gewähr dann einer Bitte!
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Meine Kunst, sie weih' ich treulich dir.«
 
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Und der König schwur, von Freude trunken,
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Und der Sänger weilt ein volles Jahr,
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Werther stets dem König und den Großen,
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Aber fest, als nun die Zeit verflossen,
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Stellt er muthig sich zum Adschied dar.
 
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»Wohl, ich weiß den Eid, den ich geschworen,«
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Sprach der König: »nimm denn Gut und Gold!«
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»Gut und Gold kann deinen Schwur nicht retten;
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Doch ein Ritter ist in deinen Ketten,
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Seine Freiheit sei der Lieder Sold!
 
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Kennst du ihn? sein Gang ist hoch und edel,
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Ist er gleich des Unglücks armer Sohn;
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Seine Wange glich der Rosenblüthe,
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Seine Brust bewohnte Muth und Güte;
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Aber Schmach war seiner Wunden Lohn.«
 
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So der Alte; brach des Ritters Bande,
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Doch den Dank verschmäht er stolz und hehr;
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Eh' der Arme Worte noch gefunden,
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War sein edler Retter schon verschwunden,
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Und der Freie sah ihn nimmermehr.
 
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Und der Jüngling stürzt' auf's Antlitz nieder:
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»Dank, o Freund, vom Himmel mir gesandt;
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Meines Landes ferne, theure Höhen,
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Die Geliebte werd' ich wiedersehen,
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Und den Sohn, der Liebe heil'ges Pfand!«
 
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Über Meer und Land und Thal und Hügel
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Zog der Ritter zu der Heimath Schoß.
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Jetzt erblickt er im bekannten Thale
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Seine Burg im rothen Abendstrahle,
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Trat entzückt in seiner Väter Schloß.
 
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Und von aller Reize Macht umgeben,
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Schloß die schöne Gattin ihn an's Herz,
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Führt' ihn an des kleinen Schläfers Wiege;
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Der Beglückte fand die eignen Züge,
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Und vergaß der bittern Tage Schmerz.
 
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Glücklich wär' ihm so sein Loos erschienen,
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Hätt' er nicht der Freundschaft Wort gehört;
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Doch die treuen Freunde, streng und bieder,
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Schlugen bald den Traum von Wonne nieder,
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Der so süß in's treue Herz gekehrt.
 
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»Ha! ich Schwacher!« rief empört der Ritter,
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Als er heim vom Mahl der Freude kam,
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»Schöne Schlange, konnt' ich je dir trauen?
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Kehrt' ich nie doch zu der Heimath Auen!
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Flieh'! und laß mich der Verzweiflung Gram!
 
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Während mich des Elends Bande drückten,
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Schweiftest du mit Buhlen weit und breit,
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Höhntest selbst dem heiligsten der Triebe,
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Dachtest nicht des Kindes treuer Liebe
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Sprich, wo warst du in der langen Zeit?«
 
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»O, du mein Geliebter, theures Leben!
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Du verbannst von deinem Antlitz mich?
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Wohl, ich geh'; doch nur noch einmal wieder
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Senk auf mich die lieben Augen nieder!
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Harr' ein Weilchen, hier begrüß' ich dich.«
 
81 
Sie verschwand; er blieb, den Kampf im Busen,
82 
Sieh', der graue Sänger trat herein,
83 
Riß die Hülle von der Locken Golde:
84 
»Kennst du mich, mein Liebling?« sprach die Holde.
85 
Und - ein Himmel schloß den Treusten ein.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Der Befreite“

Anzahl Strophen
17
Anzahl Verse
85
Anzahl Wörter
560
Entstehungsjahr
1777 - 1822
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Befreite“ wurde von Karoline Marie Luise Brachmann verfasst, die von 1777 bis 1822 lebte. Eine zeitliche Einordnung des Gedichts ist schwierig, da sich keine spezifischen historischen Ereignisse oder Details finden lassen, die auf eine genaue Zeitspanne hindeuten.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht eine klassische Erzählung zu sein, in der sich verschiedene Elemente des Dramas und der Romantik vermischen. Es erzählt die Geschichte eines Sängers, der bei einem Königsmahl anscheinend die Befreiung eines Ritters bewirkt, der zum Thron zurückkehrt, seine Frau und sein Kind wiederfindet und dann vor seinem Freund, der sich als derselbe Sänger entpuppt der ihm die Freiheit gab, eine bittere Enttäuschung erlebt.

Im Detail geht das Gedicht auf die Darstellung einer prachtvollen königlichen Umgebung ein, in der der König trotz seines Reichtums leer fühlt, weil ihm „nichts des Lebens Geist verlieh“. Mit der Ankunft des Sängers ändert sich dies, da seine Lieder den König bewegen. Das lyrische Ich schildert die Kraft der Musik, die den gequälten König veranlasst, dem Sänger jede Bitte zu gewähren. Der Sänger bittet um die Freiheit eines Ritters, die der König gewährt.

Anschließend folgt die Darstellung der Rückkehr des Ritters zu seiner Familie, wo er sein Kind zum ersten Mal sieht. Doch die Idylle wird durch seine Freunde, die ihm offenbar mitteilen, dass seine Frau ihm in seiner Abwesenheit untreu war, zerstört. Hier offenbart sich, dass die untreue Frau und der Sänger ein und dieselbe Person sind.

Das Gedicht folgt einer klaren strophen Struktur mit jeweils fünf Versen. Es verwendet eine formelle, poetische Sprache und reiche, detaillierte Beschreibungen, die das königliche Umfeld und die Emotionen des Königs, des Sängers und des befreiten Ritters lebendig machen. Trotz seiner Länge bewahrt es eine klare, fließende Struktur und einen stetigen Fluss.

Zusammenfassend geht dieses Gedicht also über die Macht der Musik und des Mutes, Grenzen zu überschreiten und Veränderung herbeizuführen sowie über die dunkle Seite der menschlichen Natur, das Verrat und die Fähigkeit zur Vergebung.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Befreite“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Karoline Marie Luise Brachmann. Im Jahr 1777 wurde Brachmann in Rochlitz geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1793 bis 1822 entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her kann der Text den Epochen Klassik, Romantik oder Biedermeier zugeordnet werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 560 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 85 Versen mit insgesamt 17 Strophen. Weitere Werke der Dichterin Karoline Marie Luise Brachmann sind „Fantasie und Gefühl“, „Roccafrieda“ und „Klosterstille“. Zur Autorin des Gedichtes „Der Befreite“ haben wir auf abi-pur.de weitere 20 Gedichte veröffentlicht.

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