Die Wanderratten von Heinrich Heine

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.
 
Sie wandern viel tausend Meilen,
Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.
 
Sie klimmen wohl über die Höhen,
10 
Sie schwimmen wohl durch die Seen;
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Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
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Die lebenden lassen die toten zurück.
 
13 
Es haben diese Käuze
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Gar fürchterliche Schnäuze;
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Sie tragen die Köpfe geschoren egal,
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Ganz radikal, ganz rattenkahl.
 
17 
Die radikale Rotte
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Weiß nichts von einem Gotte.
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Sie lassen nicht taufen ihre Brut,
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Die Weiber sind Gemeindegut.
 
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Der sinnliche Rattenhaufen,
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Er will nur fressen und saufen,
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Er denkt nicht, während er säuft und frißt,
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Daß unsre Seele unsterblich ist.
 
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So eine wilde Ratze,
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Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
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Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld
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Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.
 
29 
Die Wanderratten, o wehe!
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Sie sind schon in der Nähe.
31 
Sie rücken heran, ich höre schon
32 
Ihr Pfeifen - die Zahl ist Legion.
 
33 
O wehe! wir sind verloren,
34 
Sie sind schon vor den Toren!
35 
Der Bürgermeister und Senat,
36 
Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.
 
37 
Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
38 
Die Glocken läuten die Pfaffen.
39 
Gefährdet ist das Palladium
40 
Des sittlichen Staats, das Eigentum.
 
41 
Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,
42 
Nicht hochwohlweise Senatsdekrete,
43 
Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,
44 
Sie helfen euch heute, ihr lieben Kinder!
 
45 
Heut helfen euch nicht die Wortgespinste
46 
Der abgelebten Redekünste.
47 
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
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Sie springen über die feinsten Sophismen.
 
49 
Im hungrigen Magen Eingang finden
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Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
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Nur Argumente von Rinderbraten,
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Begleitet mit Göttinger Wurstzitaten.
 
53 
Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
54 
Behaget den radikalen Rotten
55 
Viel besser als ein Mirabeau
56 
Und alle Redner seit Cicero.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.8 KB)

Details zum Gedicht „Die Wanderratten“

Anzahl Strophen
14
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
293
Entstehungsjahr
1797 - 1856
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Wanderratten“ ist ein Werk von Heinrich Heine, der von 1797 bis 1856 lebte. Damit ist es ein Produkt des 19. Jahrhunderts und kann mit seiner konkreten politischen Aussage der literarischen Epoche des Vormärz zugeordnet werden.

Als ersten Eindruck stimmt Heines Gedicht auf eine satirische, jedoch zugleich makabre Stimmung ein. Die Textstelle, auf die das Gedicht seinen Titel bezieht, wirkt bildhaft und ungewöhnlich, was auf die starke Symbolkraft von Heines Werk hindeutet.

Inhaltlich spiegelt das Gedicht eine sozialpolitische Kritik wider. Im Kern geht es um zwei verschiedene Arten von Ratten: die satten, die zuhause bleiben, und die hungrigen, die auswandern. Hierbei fungieren die Ratten als Metapher für Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten: Die satten repräsentieren die wohlhabende Bourgeoisie, die hungrigen stehen für die Unterschicht, welche aufgrund von Armut und Hunger gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen. Heine kritisiert das materialistische Verhalten und fehlende Spiritualität dieser „Radikalen“, welche keinen Respekt vor Gebeten oder dem Gesetz zeigen und lediglich Nahrung und Reichtum suchen.

In Form und Sprache präsentiert sich das Gedicht in 14 vierzeiligen Strophen im Kreuzreim. Die strukturierte Form, der klare, verständliche Ausdruck und die eindringliche Metaphorik machen es zu einem zugänglichen, jedoch provokanten sozialkritischen Kommentar.

Insgesamt vermittelt Heinrich Heine in „Die Wanderratten“ eine beißende Kritik an der sozialen Ungleichheit und dem Egoismus der „Satten“, welchen er mit zynischem Witz und satirischer Schärfe aufzeigt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Wanderratten“ ist Heinrich Heine. Der Autor Heinrich Heine wurde 1797 in Düsseldorf geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1813 und 1856. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zugeordnet werden. Bei Heine handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 293 Wörter. Es baut sich aus 14 Strophen auf und besteht aus 56 Versen. Die Gedichte „Abenddämmerung“, „Ach, die Augen sind es wieder“ und „Ach, ich sehne mich nach Thränen“ sind weitere Werke des Autors Heinrich Heine. Zum Autor des Gedichtes „Die Wanderratten“ haben wir auf abi-pur.de weitere 535 Gedichte veröffentlicht.

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