Der Wanderer von Johann Christian Friedrich Hölderlin

Einsam stand ich und sah in die afrikanischen dürren
Ebnen hinaus; vom Olymp regnete Feuer herab.
Fernhin schlich das hagre Gebirg, wie ein wandelnd
Gerippe,
Hohl und einsam und kahl blickt' aus der Höhe sein
Haupt.
Ach! nicht sprang, mit erfrischendem Grün, der
schattende Wald hier
In die säuselnde Luft üppig und herrlich empor,
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Bäche stürzten hier nicht in melodischem Fall vom
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Gebirge,
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Durch das blühende Tal schlingend den silbernen
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Strom,
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Keiner Herde verging am plätschernden Brunnen der
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Mittag,
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Freundlich aus Bäumen hervor blickte kein
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wirtliches Dach.
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Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos,
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Ängstig und eilend flohn wandernde Störche vorbei.
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Nicht um Wasser rief ich dich an, Natur! in der
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Wüste,
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Wasser bewahrte mir treulich das fromme Kamel.
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Um der Haine Gesang, um Gestalten und Farben des
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Lebens
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Bat ich, vom lieblichen Glanz heimischer Fluren
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verwöhnt.
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Aber ich bat umsonst; du erschienst mir feurig und
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herrlich,
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Aber ich hatte dich einst göttlicher, schöner gesehn.
 
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Auch den Eispol hab ich besucht; wie ein starrendes
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Chaos
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Türmte das Meer sich da schröcklich zum Himmel
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empor.
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Tot in der Hülse von Schnee schlief hier das
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gefesselte Leben,
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Und der eiserne Schlaf harrte des Tages umsonst.
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Ach! nicht schlang um die Erde den wärmenden Arm
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der Olymp hier,
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Wie Pygmalions Arm um die Geliebte sich schlang.
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Hier bewegt' er ihr nicht mit dem Sonnenblicke den
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Busen,
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Und in Regen und Tau sprach er nicht freundlich zu
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ihr.
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Mutter Erde! rief ich, du bist zur Witwe geworden,
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Dürftig und kinderlos lebst du in langsamer Zeit.
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Nichts zu erzeugen und nichts zu pflegen in sorgender
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Liebe,
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Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehen, ist der
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Tod.
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Aber vielleicht erwarmst du dereinst am Strahle des
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Himmels,
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Aus dem dürftigen Schlaf schmeichelt sein Othem
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dich auf;
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Und, wie ein Samenkorn, durchbrichst du die eherne
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Hülse,
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Und die knospende Welt windet sich schüchtern
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heraus.
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Deine gesparte Kraft flammt auf in üppigem Frühling,
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Rosen glühen und Wein sprudelt im kärglichen
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Nord.
 
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Aber jetzt kehr ich zurück an den Rhein, in die
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glückliche Heimat
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Und es wehen, wie einst, zärtliche Lüfte mich an.
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Und das strebende Herz besänftigen mir die
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vertrauten
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Friedlichen Bäume, die einst mich in den Armen
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gewiegt,
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Und das heilige Grün, der Zeuge des ewigen, schönen
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Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling
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mich um.
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Alt bin ich geworden indes, mich bleichte der Eispol,
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Und im Feuer des Süds fielen die Locken mir aus.
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Doch, wie Aurora den Tithon, umfängst du in
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lächelnder Blüte
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Warm und fröhlich, wie einst, Vaterlandserde, den
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Sohn.
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Seliges Land! kein Hügel in dir wächst ohne den
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Weinstock,
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Nieder ins schwellende Gras regnet im Herbste das
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Obst.
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Fröhlich baden im Strome den Fuß die glühenden
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Berge,
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Kränze von Zweigen und Moos kühlen ihr sonniges
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Haupt.
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Und, wie die Kinder hinauf zur Schulter des
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herrlichen Ahnherrn,
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Steigen am dunkeln Gebirg Festen und Hütten
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hinauf.
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Friedsam geht aus dem Walde der Hirsch ans
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freundliche Tagslicht;
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Hoch in heiterer Luft siehet der Falke sich um.
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Aber unten im Tal, wo die Blume sich nährt von der
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Quelle,
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Streckt das Dörfchen vergnügt über die Wiese sich
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aus.
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Still ists hier: kaum rauschet von fern die geschäftige
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Mühle,
 
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Und vom Berge herab knarrt das gefesselte Rad.
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Lieblich tönt die gehämmerte Sens und die Stimme
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des Landmanns,
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Der am Pfluge dem Stier lenkend die Schritte gebeut,
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Lieblich der Mutter Gesang, die im Grase sitzt mit
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dem Söhnlein,
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Das die Sonne des Mais schmeichelt in lächelnden
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Schlaf.
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Aber drüben am See, wo die Ulme das alternde
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Hoftor
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Übergrünt und den Zaun wilder Holunder umblüht,
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Da empfängt mich das Haus und des Gartens
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heimliches Dunkel,
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Wo mit den Pflanzen mich einst liebend mein Vater
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erzog,
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Wo ich froh, wie das Eichhorn, spielt auf den
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lispelnden Ästen,
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Oder ins duftende Heu träumend die Stirne verbarg.
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Heimatliche Natur! wie bist du treu mir geblieben!
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Zärtlichpflegend, wie einst, nimmst du den Flüchtling
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noch auf.
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Noch gedeihn die Pfirsiche mir, noch wachsen
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gefällig
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Mir ans Fenster, wie sonst, köstliche Trauben herauf.
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Lockend röten sich noch die süßen Früchte des
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Kirschbaums,
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Und der pflückenden Hand reichen die Zweige sich
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selbst.
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Schmeichelnd zieht mich, wie sonst, in des Walds
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unendliche Laube
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Aus dem Garten der Pfad, oder hinab an den Bach,
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Und die Pfade rötest du mir, es wärmt mich und
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spielt mir
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Um das Auge, wie sonst, Vaterlandssonne! dein
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Licht;
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Feuer trink ich und Geist aus deinem freudigen
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Kelche,
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Schläfrig lässest du nicht werden mein alterndes
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Haupt.
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Die du einst mir die Brust erwecktest vom Schlafe
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der Kindheit
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Und mit sanfter Gewalt höher und weiter mich triebst,
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Mildere Sonne! zu dir kehr ich getreuer und weiser,
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Friedlich zu werden und froh unter den Blumen zu
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ruhn.

Details zum Gedicht „Der Wanderer“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
142
Anzahl Wörter
771
Entstehungsjahr
1770 - 1843
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Wanderer“ wurde von Johann Christian Friedrich Hölderlin verfasst, einem deutschen Lyriker und Philosophen, der im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert lebte. Seine Werke sind dem deutschen Idealismus und der Romantik zuzuordnen.

Der erste Eindruck beim Lesen des Gedichtes ist eine tiefe Beschreibung der Natur und eine Suche nach seiner wahren Heimat durch das lyrische Ich. Es gibt eine deutliche Präsenz von emotionaler Intensität und gefühlvoller Naturbeschreibung.

Das Gedicht stellt die Erlebnisse und Emotionen des lyrischen Ichs dar, der verschiedene Orte durchwandert und seine Heimat wiederfindet. Am Anfang des Gedichts befindet sich das lyrische Ich in einer afrikanischen Wüstenlandschaft, danach im eisigen Pol. In beiden Fällen fühlt er sich fehl am Platz und unzufrieden. Am Ende kehrt er zu seinem Heimatland, dem Rheinland, zurück und findet dort inneren Frieden und Zufriedenheit. Das lyrische Ich scheint eine tiefere Verbindung und Identität in seiner Heimat zu suchen; es sehnt sich nach dem Vertrauten und Komfort, den seine Heimat bietet.

Form und Sprache des Gedichtes sind klassisch und lyrisch. Hölderlin benutzt passende Metaphern und Vergleiche, um seine Gefühle und Gedanken zu vermitteln. Die Sprache ist bildhaft und stellt eine romantische Darstellung der Landschaften und Natureindrücke dar.

Zusammenfassend kann man sagen, dass „Der Wanderer“ ein starkes Gefühl von Heimweh und dem Streben nach Heimkehr ausdrückt. Es zeigt auch die Schönheit und Wichtigkeit der Heimat, die nicht nur ein physischer Ort, sondern auch ein Gefühlszustand sein kann.

Weitere Informationen

Johann Christian Friedrich Hölderlin ist der Autor des Gedichtes „Der Wanderer“. Hölderlin wurde im Jahr 1770 in Lauffen am Neckar geboren. Zwischen den Jahren 1786 und 1843 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das vorliegende Gedicht umfasst 771 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 142 Versen. Die Gedichte „An die Parzen“, „An die jungen Dichter“ und „An unsre Dichter“ sind weitere Werke des Autors Johann Christian Friedrich Hölderlin. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Wanderer“ weitere 181 Gedichte vor.

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