An die Deutschen von Johann Christian Friedrich Hölderlin

Spottet nimmer des Kinds, wenn noch das alberne
Auf dem Rosse von Holz herrlich und viel sich dünkt,
O ihr Guten! auch wir sind
Tatenarm und gedankenvoll!
 
Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt,
Aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat?
Folgt die Frucht, wie des Haines
Dunklem Blatte, der stillen Schrift?
 
Und das Schweigen im Volk, ist es die Feier schon
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Vor dem Feste? die Furcht, welche den Gott ansagt?
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O dann nimmt mich, ihr Lieben!
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Daß ich büße die Lästerung.
 
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Schon zu lange, zu lang irr ich, dem Laien gleich,
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In des bildenden Geists werdender Werkstatt hier,
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Nur was blühet, erkenn ich,
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Was er sinnet, erkenn ich nicht.
 
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Und zu ahnen ist süß, aber ein Leiden auch,
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Und schon Jahre genug leb ich in sterblicher
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Unverständiger Liebe
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Zweifelnd, immer bewegt vor ihm,
 
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Der das stetige Werk immer aus liebender
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Seele näher mir bringt, lächelnd dem Sterblichen,
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Wo ich zage, des Lebens
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Reine Tiefe zu Reife bringt.
 
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Schöpferischer, o wann, Genius unsers Volks,
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Wann erscheinest du ganz, Seele des Vaterlands,
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Daß ich tiefer mich beuge,
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Daß die leiseste Saite selbst
 
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Mir verstumme vor dir, daß ich beschämt,
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Eine Blume der Nacht, himmlischer Tag, vor dir
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Enden möge mit Freuden,
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Wenn sie alle, mit denen ich
 
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Vormals trauerte, wenn unsere Städte nun
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Hell und offen und wach, reineren Feuers voll
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Und die Berge des deutschen
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Landes Berge der Musen sind,
 
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Wie die herrlichen einst, Pindos und Helikon,
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Und Parnassos, und rings unter des Vaterlands
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Goldnem Himmel die freie,
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Klare, geistige Freude glänzt.
 
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Wohl ist enge begrenzt unsere Lebenszeit,
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Unserer Jahre Zahl sehen und zählen wir,
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Doch die Jahre der Völker,
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Sah ein sterbliches Auge sie?
 
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Wenn die Seele dir auch über die eigne Zeit
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Sich, die sehnende, schwingt, trauernd verweilest du
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Dann am kalten Gestade
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Bei den Deinen und kennst sie nie,
 
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Und die Künftigen auch, sie, die Verheißenen,
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Wo, wo siehest du sie, daß du an Freundeshand
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Einmal wieder erwarmest,
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Einer Seele vernehmlich seist?
 
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Klanglos, ists in der Halle längst,
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Armer Seher! bei dir, sehnend verlischt dein Aug
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Und du schlummerst hinunter
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Ohne Namen und unbeweint.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30 KB)

Details zum Gedicht „An die Deutschen“

Anzahl Strophen
14
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
350
Entstehungsjahr
1770 - 1843
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „An die Deutschen“ wurde von Johann Christian Friedrich Hölderlin geschrieben, einem wichtigen Vertreter der Romantik, der von 1770 bis 1843 lebte.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht sehr reflektiert und gedankenschwer. Es scheint, dass das lyrische Ich eine Art Aufforderung an seine Landsleute richtet, den Wert von Ideen und Geistesarbeit zu erkennen und diese in konkreten Taten umzusetzen.

Inhaltlich beschäftigt sich das Gedicht zunächst mit dem Spott über die Träumereien und Unschuld der Jugend, die in ihrem Spiel auf einem Holzpferd bereits Großes zu vollbringen glaubt. Doch das lyrische Ich fordert dazu auf, diese Unschuld und den Reichtum an Vorstellungskraft nicht zu verachten, sondern zu schätzen. Es schlägt eine Brücke zum Erwachsenenalter, indem es die Bedeutung von Gedanken und Ideen betont, aus denen schließlich innovative Taten entspringen können. Es fragt nach der Rolle des Schweigens im Volk und ob es vielleicht bereits die erwartungsvolle Ruhe vor einem großen Ereignis ist.

Des Weiteren wird der Wunsch geäußert, für die Lästerung des göttlichen Schöpfergeistes zu büßen, und das lyrische Ich bekennt sein Unvermögen, die tiefere Absicht hinter der schöpferischen Kraft zu erkennen. Es beschreibt die innere Zerrissenheit und die beständige Suche, das Mysterium des Lebens zu verstehen. Es richtet eine Sehnsuchtsbekundung an den Genius des deutschen Volkes und wünscht sich, dass er vollständig in Erscheinung tritt, sodass die Nation unter dessen Führung aufblühen kann.

Formal besteht das Gedicht aus vierzeiligen Strophen, die in einem regelmäßigen, gleichmäßigen Rhythmus abgefasst sind. Die Sprache ist poetisch und bildhaft, aber dennoch klar und direkt, wodurch das Gedicht trotz seiner geistigen Schwere gut verständlich ist.

Analytisch gesehen, scheint das Gedicht eine Aufforderung an die Deutschen zu sein, ihr kulturelles und geistiges Potenzial zu erkennen und dieses zur Entfaltung zu bringen. Es ist eine Hommage an den Geist, die Vorstellungskraft und die Kreativität, die in jedem Individuum und in einer Nation als Ganzes innewohnen. Es ruft dazu auf, dieses Potenzial nicht zu belächeln oder zu ignorieren, sondern es als Quelle der Inspiration und des Fortschritts zu nutzen. Gleichzeitig drückt das lyrische Ich aber auch seine eigene Unsicherheit, Unverständnis und Sehnsucht aus, den tieferen Sinn des Lebens und der schöpferischen Kraft zu ergründen.

Insgesamt ist „An die Deutschen“ ein durchaus komplexes Gedicht, das tiefe Einblicke in Hölderlins Denken und seine Sicht auf die Welt sowie die Rolle Deutschlands darin gewährt. Es ist ein Plädoyer für die Anerkennung und Nutzbarmachung des geistigen Reichtums einer Nation und fordert uns als Leser zur Reflexion über unsere eigenen Vorurteile, Annahmen und Potentialen auf.

Weitere Informationen

Das Gedicht „An die Deutschen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Christian Friedrich Hölderlin. 1770 wurde Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren. Zwischen den Jahren 1786 und 1843 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz zu. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 14 Strophen und umfasst dabei 350 Worte. Der Dichter Johann Christian Friedrich Hölderlin ist auch der Autor für Gedichte wie „An die jungen Dichter“, „An unsre Dichter“ und „Das Schicksal“. Zum Autor des Gedichtes „An die Deutschen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 181 Gedichte veröffentlicht.

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