Rousseau von Johann Christian Friedrich Hölderlin

Wie eng begrenzt ist unsere Tageszeit.
Du warst und sahst und stauntest, schon Abend ists,
Nun schlafe, wo unendlich ferne
Ziehen vorüber der Völker Jahre.
 
Und mancher siehet über die eigne Zeit,
Ihm zeigt ein Gott ins Freie, doch sehnend stehst
Am Ufer du, ein Ärgernis den
Deinen, ein Schatten, und liebst sie nimmer,
 
Und jene, die du nennst, die Verheißenen,
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Wo sind die Neuen, daß du an Freundeshand
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Erwarmst, wo nahn sie, daß du einmal,
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Einsame Rede, vernehmlich seiest?
 
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Klanglos ists, armer Mann, in der Halle dir,
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Und gleich den Unbegrabenen, irrest du
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Unstät und suchest Ruh und niemand
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Weiß den beschiedenen Weg zu weisen.
 
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Sei denn zufrieden! der Baum entwächst
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Dem heimatlichen Boden, aber es sinken ihm
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Die liebenden, die jugendlichen
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Arme, und trauernd neigt er sein Haupt.
 
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Des Lebens Überfluß, das Unendliche,
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Das um ihn und dämmert, er faßt es nie.
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Doch lebts in ihm und gegenwärtig,
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Wärmend und wirkend, die Frucht entquillt ihm.
 
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Du hast gelebt! auch dir, auch dir
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Erfreuet die ferne Sonne dein Haupt,
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Und Strahlen aus der schönern Zeit. Es
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Haben die Boten dein Herz gefunden.
 
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Vernommen hast du sie, verstanden die Sprache der
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Fremdlinge,
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Gedeutet ihre Seele! Dem Sehnenden war
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Der Wink genug, und Winke sind
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Von alters her die Sprache der Götter.
 
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Und wunderbar, als hätte von Anbeginn
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Des Menschen Geist das Werden und Wirken all,
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Des Lebens Weise schon erfahren,
 
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Kennt er im ersten Zeichen Vollendetes schon,
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Und fliegt, der kühne Geist, wie Adler den
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Gewittern, weissagend seinen
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Kommenden Göttern voraus,
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.9 KB)

Details zum Gedicht „Rousseau“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
251
Entstehungsjahr
1770 - 1843
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Rousseau“ wurde von dem deutschen Dichter Johann Christian Friedrich Hölderlin verfasst, der zur Zeit der Romantik lebte (1770-1843). Die Hinwendung zum Französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau in der Titelgebung suggeriert eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Ideen und Idealen vor dem Hintergrund der sich herausbildenden modernen Gesellschaft.

Beim ersten Eindruck fällt ein gewisser schwebender, dynamischer, fast meditativer Charakter des Gedichts auf. Es zeigt eine Reihe von Gedanken und Reflexionen, die das lyrische Ich durchläuft, während es sich mit den Begrenzungen der Zeit und dem Übergang zwischen verschiedenen Lebensphasen auseinandersetzt.

Inhaltlich lässt sich das Gedicht als eine Reflexion über das Leben, seine Begrenzungen und seine Möglichkeiten interpretieren, ausgelöst durch das Schicksal Jean-Jacques Rousseaus. Das lyrische Ich reflektiert zunächst die Kürze des individuellen Lebens (Strophen 1 & 2) und die Unverständlichkeit und Isolation, die mit dem Älterwerden einhergehen (Strophen 3 & 4). Es führt weiter aus, dass gerade im Weiterwachsen und im Scheitern eine Kraft und Fruchtbarkeit liegen kann (Strophen 5 & 6) und dass jeder Mensch durch seine Erlebnisse und das Leben an sich geprägt wird (Strophen 7 & 8). Es betont abschließend die Fähigkeit des menschlichen Geistes, Bestehendes zu erfassen und in die Zukunft zu sehen (Strophen 9 & 10).

Formal betrachtet folgt das Gedicht keinem klassischen Reimschema und sorgt so für eine freiere, kontemplative Stimmung. Hölderlin verwendet eine klare, einfache, fast philosophische Sprache. Er greift auf vielfältige und teils metaphorische Bilder zurück, um seine Gedanken und Gefühle auszudrücken, wie beispielsweise der Wachstumsprozess eines Baums, um die Veränderungen im Leben darzustellen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hölderlins „Rousseau“ ein dichterisch-philosophisches Gedicht ist, das die Vergänglichkeit und Begrenztheit des Lebens, aber auch die Schönheit und Kraft des menschlichen Geistes in den Vordergrund stellt. Es regt zur Reflexion über die eigenen persönlichen Erfahrungen und das Verhältnis zur Welt an.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Rousseau“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Christian Friedrich Hölderlin. Der Autor Johann Christian Friedrich Hölderlin wurde 1770 in Lauffen am Neckar geboren. Im Zeitraum zwischen 1786 und 1843 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 251 Worte. Johann Christian Friedrich Hölderlin ist auch der Autor für Gedichte wie „An Ihren Genius“, „An die Deutschen“ und „An die Parzen“. Zum Autor des Gedichtes „Rousseau“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 181 Gedichte vor.

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