Die Allgegenwart Gottes von Friedrich Gottlieb Klopstock

Als du mit dem Tode gerungen,
Mit dem Tode!
Heftiger gebetet hattest!
Als dein Schweiß und dein Blut
Auf die Erde geronnen war;
In der ernsten Stunde
Tatest du jene große Wahrheit kund,
Die Wahrheit sein wird,
Solange die Hülle der ewigen Seele
10 
Staub ist!
11 
Du standest, und sprachst
12 
Zu den Schlafenden:
13 
Willig ist eure Seele;
14 
Allein das Fleisch ist schwach!
 
15 
Dieser Endlichkeit Los,
16 
Diese Schwere der Erde,
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Fühlt auch meine Seele,
18 
Wenn sie zu Gott, zu Gott!
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Zu dem Unendlichen!
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Sich erheben will!
 
21 
Anbetend, Vater, sink ich in Staub, und fleh!
22 
Vernimm mein Flehn, die Stimme des Endlichen!
23 
Mit Feuer taufe meine Seele,
24 
Daß sie zu dir sich, zu dir, erhebe!
 
25 
Allgegenwärtig, Vater, umgibst du mich!
26 
Steh hier, Betrachtung, still, und forsche
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Diesem Gedanken der Wonne nach!
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Was wird das Anschaun sein,
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Wenn der Gedank an dich,
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Allgegenwärtiger!
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Schon so viel Kräfte jener Welt hat!
32 
Was wird es sein dein Anschaun,
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Unendlicher! Unendlicher!
 
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Das sah kein Auge,
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Das hörte kein Ohr,
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Das kam in keines Herz;
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Wie sehr es auch rang,
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Wie es nach Gott auch, nach Gott!
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Nach dem Unendlichen dürstete,
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Kams doch in keines Menschen Herz:
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Was Gott bereitet hat
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Denen, die ihn lieben!
 
43 
Wenige nur, ach, wenige sind,
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Deren Aug in der Schöpfung
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Den, der geschaffen hat, sieht!
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Wenige, deren Ohr
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In dem mächtigen Rauschen des Sturmwinds,
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Im Donner, der rollt,
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Oder im lispelnden Bache,
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Den Unerschaffnen hört!
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Wenige Herzen erfüllt
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Mit Ehrfurcht und Schauer
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Gottes Allgegenwart!
 
54 
Laß mich, im Heiligtume,
55 
Dich, Allgegenwärtiger!
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Stets suchen, und finden!
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Und wenn er mir entflieht,
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Dieser himmlische Gedanke,
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Laß mich ihn tiefanbetend
60 
Aus den Chören der Seraphim
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Ihn mit lauten Tränen der Freude
62 
Herunterrufen,
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Damit ich, dich zu schaun,
64 
Mich bereite, mich weihe,
65 
Dich zu schaun!
66 
Im Allerheiligsten!
 
67 
Ich hebe mein Aug auf, und sehe,
68 
Und siehe der Herr ist überall!
69 
Erd, aus deren Staube
70 
Der erste der Menschen geschaffen ward,
71 
Auf der ich mein erstes Leben lebe!
72 
In der ich verwesen,
73 
Aus der ich auferstehn werde!
74 
Gott, Gott würdigt auch dich,
75 
Dir gegenwärtig zu sein!
 
76 
Mit heiligem Schauer
77 
Brech ich die Blum ab!
78 
Gott machte sie!
79 
Gott ist, wo die Blum ist!
 
80 
Mit heiligem Schauer
81 
Fühl ich das Wehn,
82 
Hier ist das Rauschen der Lüfte!
83 
Es hieß sie wehen, und rauschen,
84 
Der Ewige!
85 
Wo sie wehen, und rauschen,
86 
Ist der Ewige!
 
87 
Freu dich deines Todes, o Leib!
88 
Wo du verwesen wirst,
89 
Wird der Ewige sein!
 
90 
Freu dich deines Todes, o Leib!
91 
In den Tiefen der Schöpfung,
92 
In den Höhen der Schöpfung,
93 
Werden deine Trümmern verwehn!
94 
Auch dort, Verwester, Verstäubter,
95 
Wird er sein, der Ewige!
 
96 
Die Höhen werden sich bücken!
97 
Die Tiefen sich bücken!
98 
Wenn der Allgegenwärtige nun
99 
Wieder aus Staube
100 
Unsterbliche schafft!
 
101 
Halleluja dem Schaffenden!
102 
Dem Tötenden Halleluja!
103 
Halleluja dem Schaffenden!
 
104 
Ich hebe mein Aug auf, und sehe!
105 
Und siehe, der Herr ist überall!
106 
Euch, Sonnen, euch, Erden, euch, Monde der Erden,
107 
Erfüllet, rings um mich,
108 
Seine göttliche Gegenwart!
 
109 
Geheimnisvolle Nacht der Welten,
110 
Wie wir im dunkeln Worte schaun
111 
Den, der ewig ist!
112 
So schauen wir in dir, o Nacht der Welten,
113 
Den, der ewig ist!
 
114 
Hier steh ich Erde!
115 
Was ist mein Leib
116 
Gegen diese selbst den Engeln
117 
Unzählbare Welten!
118 
Was sind diese selbst den Engeln
119 
Unzählbare Welten
120 
Gegen meine Seele!
 
121 
Ihr, der Unsterblichen, ihr, der Erlösten
122 
Bist du näher als den Welten;
123 
Denn sie denken, sie fühlen
124 
Deine Gegenwart nicht!
 
125 
Mit stillem Ernste dank ich dir,
126 
Wenn ich sie denke!
127 
Mit Freudentränen, mit namloser Wonne
128 
Dank ich, o Vater, dir,
129 
Wenn ich sie fühle!
 
130 
Augenblicke deiner Erbarmungen
131 
O Vater, sinds;
132 
Wenn du das himmelvolle Gefühl
133 
Deiner Allgegenwart
134 
In meine Seele strahlst!
 
135 
Ein solcher Augenblick
136 
Ist ein Jahrhundert
137 
Voll Seligkeit!
 
138 
Meine Seele dürstet
139 
Wie nach der Auferstehung
140 
Verdorrtes Gebein!
141 
So dürstet meine Seele
142 
Nach diesen Augenblicken
143 
Deiner Erbarmungen!
 
144 
Ich lieg, ich liege vor dir
145 
Auf meinem Angesichte!
146 
O läg ich, Vater, noch tiefer vor dir
147 
Gebückt im Staube
148 
Der untersten der Welten!
 
149 
Du denkst, du empfindest,
150 
O die du sein wirst!
151 
Die du höher denken,
152 
Und seliger empfinden,
153 
Die du anschaun wirst!
154 
Durch wen, o meine Seele?
155 
Durch den, der war! und der ist! und der sein wird!
 
156 
Du, den Worte nicht nennen,
157 
Deine noch ungeschaute Gegenwart
158 
Erleucht und erhebe
159 
Jeden meiner Gedanken,
160 
Leit ihn, Unerschaffner, zu dir!
161 
Entflamm, und beflügle
162 
Jede meiner Empfindungen,
163 
Leite sie, Unerschaffner, zu dir!
 
164 
Wer bin ich, o Erster!
165 
Und wer bist du!
166 
Wer bist du?
 
167 
Stärke, kräftige, gründe mich,
168 
Daß ich dein sei,
169 
Auf ewig dein sei!
 
170 
Ohn ihn, der sich für mich geopfert hat,
171 
Könnt ich nicht dein sein!
172 
Ohn ihn wär deine Gegenwart
173 
Feuereifer und Rache mir!
 
174 
Erd und Himmel vergehen;
175 
Deine Verheißungen, Göttlicher, nicht!
176 
Von dem ersten Gefallnen an,
177 
Bis zu dem letzten Erlösten,
178 
Den die Posaune der Auferstehung
179 
Verwandeln wird,
180 
Bist du bei den Deinen gewesen,
181 
Wirst du bei den Deinen sein!
 
182 
In die Wunden deiner Hände
183 
Legt ich meine Finger nicht!
184 
In die Wunde deiner Seite
185 
Legt ich meine Hand nicht!
186 
Aber du bist mein Herr! und mein Gott!
 
187 
Mit Gnade sei mir gegenwärtig,
188 
Mit Gnade! mit Gnade!
 
189 
Es sind Worte des ewigen Lebens,
190 
Die du betetest,
191 
Eh du in Gethsemane
192 
Ins Gericht gingst!
 
193 
Hallet, Himmel, sie!
194 
Stamml', o Erde, sie nach!
 
195 
Laß alle sie eins sein!
196 
Wie du, Vater, in mir bist,
197 
Wie ich in dir bin!
 
198 
So laß alle sie eins in uns sein!
199 
Ich in ihnen!
200 
Und du in mir!
201 
Daß sie zu einer Vollkommenheit
202 
Vollendet werden!
 
203 
Hallt die Worte des ewigen Lebens, ihr Himmel!
204 
Stamml', o Erde, sie nach!
 
205 
Der für mich mit dem Tode rang!
206 
Den Gott für mich verließ!
207 
Der nicht erlag,
208 
Als ihn der Ewige verließ,
209 
Der ist in mir!
 
210 
Gedanke meines tiefsten Erstaunens,
211 
Ich bebe vor dir!
212 
Da die Winde gewaltiger wehten,
213 
Die höhere Wog' auf ihn strömte,
214 
Sank Kephas!
215 
Ich sinke!
216 
Hilf mir, mein Herr! und mein Gott!

Details zum Gedicht „Die Allgegenwart Gottes“

Anzahl Strophen
38
Anzahl Verse
216
Anzahl Wörter
961
Entstehungsjahr
1724 - 1803
Epoche
Empfindsamkeit

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Allgegenwart Gottes“ wurde von Friedrich Gottlieb Klopstock, einem wichtigen Vertreter der Epoche der Aufklärung und des Sturm und Drang, verfasst. Klopstock lebte von 1724 bis 1803.

Beim ersten Lesen fallen die Ehrfurcht und Verehrung des lyrischen Ichs für einen allgegenwärtigen Gott auf. Es handelt sich um eine sehr ausführliche und intensive Auseinandersetzung mit dem Glauben und der Beziehung des Menschen zu Gott.

Inhaltlich thematisiert das Gedicht die Überlegenheit, Unendlichkeit und Allgegenwart Gottes. Besondere Bedeutung hat dabei das Erleben der göttlichen Präsenz, die in der ganzen Schöpfung, sowohl im Großen als auch im Kleinen, wahrgenommen wird. Der Text ist ein intensives Gebet, in dem das lyrische Ich Gott um Erleuchtung, Stärkung und Gnade bittet und gleichzeitig seine eigene Unwürdigkeit und Sterblichkeit betont.

Die Form des Gedichts ist eher unkonventionell. Es besteht aus sehr vielen Strophen unterschiedlicher Länge und folgt keinem festen Reimschema. Dies könnte als Ausdruck der Unbeschreiblichkeit und Unbegreiflichkeit Gottes gesehen werden.

Auffällig ist der dramatische und emotionale Sprachstil. Es werden viele Ausrufe und Anreden sowie Wiederholungen verwendet, was die Intensität des Gebets unterstreicht. Die Sprache ist voller Bilder und Metaphern, die das Verhältnis des lyrischen Ichs zu Gott und die menschliche Erfahrung der göttlichen Allgegenwart zu illustrieren versuchen.

Insgesamt zeigt das Gedicht eine sehr persönliche und emotionale Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit dem Glauben und seiner Beziehung zu Gott. Es vermittelt ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht und Demut vor dem Unendlichen und Unbegreiflichen.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Allgegenwart Gottes“ ist Friedrich Gottlieb Klopstock. 1724 wurde Klopstock in Quedlinburg geboren. Im Zeitraum zwischen 1740 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Empfindsamkeit zugeordnet werden. Bei Klopstock handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 216 Versen mit insgesamt 38 Strophen und umfasst dabei 961 Worte. Die Gedichte „Die höheren Stufen“, „Die Unschuldigen“ und „Losreißung“ sind weitere Werke des Autors Friedrich Gottlieb Klopstock. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Allgegenwart Gottes“ weitere 65 Gedichte vor.

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