Erinnerung von Eduard Mörike
1 |
Jenes war zum letzten Male, |
2 |
Daß ich mit dir ging, o Clärchen! |
3 |
Ja, das war das letztemal, |
4 |
Daß wir uns wie Kinder freuten. |
|
|
5 |
Als wir eines Tages eilig |
6 |
Durch die breiten, sonnenhellen, |
7 |
Regnerischen Straßen, unter |
8 |
Einem Schirm geborgen, liefen; |
9 |
Beide heimlich eingeschlossen |
10 |
Wie in einem Feenstübchen, |
11 |
Endlich einmal Arm in Arme! |
|
|
12 |
Wenig wagten wir zu reden, |
13 |
Denn das Herz schlug zu gewaltig, |
14 |
Beide merkten wir es schweigend, |
15 |
Und ein jedes schob im stillen |
16 |
Des Gesichtes glühnde Röte |
17 |
Auf den Widerschein des Schirmes. |
|
|
18 |
Ach, ein Engel warst du da! |
19 |
Wie du auf den Boden immer |
20 |
Blicktest, und die blonden Locken |
21 |
Um den hellen Nacken fielen. |
|
|
22 |
»Jetzt ist wohl ein Regenbogen |
23 |
Hinter uns am Himmel«, sagt ich, |
24 |
»Und die Wachtel dort im Fenster, |
25 |
Deucht mir, schlägt noch eins so froh!« |
|
|
26 |
Und im Weitergehen dacht ich |
27 |
Unsrer ersten Jugendspiele, |
28 |
Dachte an dein heimatliches |
29 |
Dorf und seine tausend Freuden. |
30 |
»Weißt du auch noch«, frug ich dich, |
31 |
»Nachbar Büttnermeisters Höfchen, |
32 |
Wo die großen Kufen lagen, |
33 |
Drin wir sonntags nach Mittag uns |
34 |
Immer häuslich niederließen, |
35 |
Plauderten, Geschichten lasen, |
36 |
Während droben in der Kirche |
37 |
Kinderlehre war - (ich höre |
38 |
Heute noch den Ton der Orgel |
39 |
Durch die Stille ringsumher): |
40 |
Sage, lesen wir nicht einmal |
41 |
Wieder wie zu jenen Zeiten |
42 |
Just nicht in der Kufe, mein ich |
43 |
Den beliebte ?Robinson??« |
|
|
44 |
Und du lächeltest und bogest |
45 |
Mit mir um die letzte Ecke. |
46 |
Und ich bat dich um ein Röschen, |
47 |
Das du an der Brust getragen, |
48 |
Und mit scheuen Augen schnelle |
49 |
Reichtest du mir's hin im Gehen: |
50 |
Zitternd hob ich's an die Lippen, |
51 |
Küßt es brünstig zwei- und dreimal; |
52 |
Niemand konnte dessen spotten, |
53 |
Keine Seele hat's gesehen, |
54 |
Und du selber sahst es nicht. |
|
|
55 |
An dem fremden Haus, wohin |
56 |
Ich dich zu begleiten hatte, |
57 |
Standen wir nun, weißt, ich drückte |
58 |
Dir die Hand und |
|
|
59 |
Dieses war zum letzten Male, |
60 |
Daß ich mit dir ging, o Clärchen! |
61 |
Ja, das war das letztemal, |
62 |
Daß wir uns wie Kinder freuten. |
Details zum Gedicht „Erinnerung“
Eduard Mörike
9
62
319
1804 - 1875
Biedermeier
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Erinnerung“ ist von Eduard Mörike, einem deutschen Dichter und Schriftsteller des Biedermeier, der zwischen 1804 und 1875 lebte.
Schon beim ersten Lesen stellt sich eine wohlige Melancholie ein, mit der das lyrische Ich seine Erinnerung an einen intimen Moment der Vergangenheit teilt. Das Gedicht besteht hauptsächlich aus der Rückbesinnung auf die letzte gemeinsame Begegnung mit einer gewissen Clärchen, wobei wir uns auf eine Spaziergangsbegleitung durch einen regnerischen Tag begeben.
Die romantische und intime Szene wird von der ersten bis zur dritten Strophe beschrieben, in der sie zusammen unter einem Regenschirm laufen, begleitet von den heranrollenden Regen und der Liebe zwischen ihnen. Umschlossen von dem Schirm entsteht zwischen ihnen eine kleine, magische Welt. All das wird in Zeile 11 durch die Phrase „Endlich einmal Arm in Arme!“ auf den Höhepunkt gebracht.
Es geht dann weiter mit der detaillierten Beschreibung ihrer inneren Gefühle, ihrer körperlichen Reaktionen und sogar ihrer physischen Erscheinung. Die Schönheit, deren Perzeption sich in solchen emotionalen Momenten intensiviert - wie das „glühnde Röte“ ihrer Gesichter oder die blonden Locken, die um ihren „hellen Nacken“ fielen.
In der fünften und sechsten Strophe wechselt das lyrische Ich das Szenario und beginnt eine Konversation mit Clärchen, in which er nicht nur ihre gemeinsamen Erinnerungen teilt, sondern auch nostalgisch ihre Kindheit und vergangenen Freuden zurückruft. Dabei wird der Wunsch ausgedrückt, dass diese Momente wieder erlebt werden können.
Diese Intimität gipfelt in der siebten Strophe, in der das lyrische Ich um ein Röschen bittet, das Clärchen an ihrer Brust trägt, und es zärtlich küsst, während keiner von beiden spricht. In den letzten beiden Strophen kommt eine traurige Tatsache ans Licht, dass all diese Emotionen und Erinnerungen durch die letzte Begegnung mit Clärchen hervorgerufen wurden.
Das Gedicht folgt keiner strengen Form im Hinblick auf Reim und Metrik, aber es ist kraftvoll in seiner einfachen und direkten Aussage. Die Württembergisch-deutsche Mundart, in der das Gedicht geschrieben ist, verleiht der Erzählung einen intimeren und persönlicheren Ton.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Erinnerung“ nicht nur ein Gedicht über romantische Liebe ist, sondern auch eine Reflexion über Nostalgie, Verlust und die Wichtigkeit von Erinnerungen.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Erinnerung“ ist Eduard Mörike. Mörike wurde im Jahr 1804 in Ludwigsburg geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1820 und 1875. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Biedermeier zu. Bei Mörike handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 319 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 62 Versen mit insgesamt 9 Strophen. Die Gedichte „An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang“, „Elfenlied“ und „Er ist’s“ sind weitere Werke des Autors Eduard Mörike. Zum Autor des Gedichtes „Erinnerung“ haben wir auf abi-pur.de weitere 171 Gedichte veröffentlicht.
+ Mehr Informationen zum Autor / Gedicht einblenden.
+ Wie analysiere ich ein Gedicht?
Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Eduard Mörike
Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Eduard Mörike und seinem Gedicht „Erinnerung“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.
- Mörike, Eduard - Um Mitternacht (Gedichtsanalyse)
- Mörike, Eduard - Am Walde (Gedichtinterpretation)
- Gedichtvergleich - Auf einer Wanderung (Eduard Mörike) und Abseits (Theodor Storm)
Weitere Gedichte des Autors Eduard Mörike (Infos zum Autor)
- An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang
- Elfenlied
- Er ist’s
- Gebet
- Im Frühling
- Septembermorgen
- Nimmersatte Liebe
- Lose Ware
- Gesang Weylas
- Auf eine Christblume
Zum Autor Eduard Mörike sind auf abi-pur.de 171 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
Freie Ausbildungsplätze in Deiner Region
besuche unsere Stellenbörse und finde mit uns Deinen Ausbildungsplatz
erfahre mehr und bewirb Dich direkt