Besuch in Urach von Eduard Mörike

Nur fast so wie im Traum ist mir's geschehen,
Daß ich in dies geliebte Tal verirrt.
Kein Wunder ist, was meine Augen sehen,
Doch schwankt der Boden, Luft und Staude schwirrt,
Aus tausend grünen Spiegeln scheint zu gehen
Vergangne Zeit, die lächelnd mich verwirrt;
Die Wahrheit selber wird hier zum Gedichte,
Mein eigen Bild ein fremd und hold Gesichte!
 
Da seid ihr alle wieder aufgerichtet,
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Besonnte Felsen, alte Wolkenstühle!
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Auf Wäldern schwer, wo kaum der Mittag lichtet
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Und Schatten mischt mit balsamreicher Schwüle.
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Kennt ihr mich noch, der sonst hieher geflüchtet,
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Im Moose, bei süß-schläferndem Gefühle,
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Der Mücke Sumsen hier ein Ohr geliehen,
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Ach, kennt ihr mich, und wollt nicht vor mir fliehen?
 
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Hier wird ein Strauch, ein jeder Halm zur Schlinge,
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Die mich in liebliche Betrachtung fängt;
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Kein Mäuerchen, kein Holz ist so geringe,
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Daß nicht mein Blick voll Wehmut an ihm hängt:
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Ein jedes spricht mir halbvergeßne Dinge;
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Ich fühle, wie von Schmerz und Lust gedrängt
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Die Träne stockt, indes ich ohne Weile,
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Unschlüssig, satt und durstig, weitereile.
 
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Hinweg! und leite mich, du Schar von Quellen,
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Die ihr durchspielt der Matten grünes Gold!
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Zeigt mir die urbemoosten Wasserzellen,
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Aus denen euer ewigs Leben rollt,
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Im kühnsten Walde die verwachsnen Schwellen,
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Wo eurer Mutter Kraft im Berge grollt,
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Bis sie im breiten Schwung an Felsenwänden
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Herabstürzt, euch im Tale zu versenden.
 
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O hier ist's, wo Natur den Schleier reißt!
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Sie bricht einmal ihr übermenschlich Schweigen;
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Laut mit sich selber redend will ihr Geist,
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Sich selbst vernehmend, sich ihm selber zeigen.
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Doch ach, sie bleibt, mehr als der Mensch, verwaist,
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Darf nicht aus ihrem eignen Rätsel steigen!
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Dir biet ich denn, begier'ge Wassersäule,
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Die nackte Brust, ach, ob sie dir sich teile!
 
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Vergebens! und dein kühles Element
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Tropft an mir ab, im Grase zu versinken.
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Was ist's, das deine Seele von mir trennt?
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Sie flieht, und möcht ich auch in dir ertrinken!
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Dich kränkt's nicht, wie mein Herz um dich entbrennt,
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Küssest im Sturz nur diese schroffen Zinken;
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Du bleibest, was du warst seit Tag und Jahren,
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Ohn ein'gen Schmerz der Zeiten zu erfahren.
 
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Hinweg aus diesem üppgen Schattengrund
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Voll großer Pracht, die drückend mich erschüttert!
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Bald grüßt beruhigt mein verstummter Mund
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Den schlichten Winkel, wo sonst halb verwittert
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Die kleine Bank und wo das Hüttchen stund;
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Erinnrung reicht mit Lächeln die verbittert
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Bis zur Betäubung süßen Zauberschalen;
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So trink ich gierig die entzückten Qualen.
 
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Hier schlang sich tausendmal ein junger Arm
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Um meinen Hals mit inn'gem Wohlgefallen.
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O säh ich mich, als Knaben sonder Harm,
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Wie einst, mit Necken durch die Haine wallen!
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Ihr Hügel, von der alten Sonne warm,
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Erscheint mir denn auf keinem von euch allen
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Mein Ebenbild, in jugendlicher Frische
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Hervorgesprungen aus dem Waldgebüsche?
 
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O komm, enthülle dich! dann sollst du mir
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Mit Freundlichkeit ins dunkle Auge schauen!
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Noch immer, guter Knabe, gleich ich dir,
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Uns beiden wird nicht voreinander grauen!
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So komm und laß mich unaufhaltsam hier
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Mich deinem reinen Busen anvertrauen!
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Umsonst, daß ich die Arme nach dir strecke,
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Den Boden, wo du gingst, mit Küssen decke!
 
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Hier will ich denn laut schluchzend liegen bleiben,
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Fühllos, und alles habe seinen Lauf!
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Mein Finger, matt, ins Gras beginnt zu schreiben:
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Hin ist die Lust! hab alles seinen Lauf!
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Da, plötzlich, hör ich's durch die Lüfte treiben,
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Und ein entfernter Donner schreckt mich auf;
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Elastisch angespannt mein ganzes Wesen
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Ist von Gewitterluft wie neu genesen.
 
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Sieh! wie die Wolken finstre Ballen schließen
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Um den ehrwürdgen Trotz der Burgruine!
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Von weitem schon hört man den alten Riesen,
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Stumm harrt das Tal mit ungewisser Miene,
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Der Kuckuck nur ruft sein einförmig Grüßen
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Versteckt aus unerforschter Wildnis Grüne
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Jetzt kracht die Wölbung, und verhallet lange,
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Das wundervolle Schauspiel ist im Gange!
 
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Ja nun, indes mit hoher Feuerhelle
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Der Blitz die Stirn und Wange mir verklärt,
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Ruf ich den lauten Segen in die grelle
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Musik des Donners, die mein Wort bewährt:
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O Tal! du meines Lebens andre Schwelle!
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Du meiner tiefsten Kräfte stiller Herd!
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Du meiner Liebe Wundernest! ich scheide
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Leb wohl! - und sei dein Engel mein Geleite!

Details zum Gedicht „Besuch in Urach“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
96
Anzahl Wörter
669
Entstehungsjahr
1804 - 1875
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Besuch in Urach“ stammt vom Autor Eduard Mörike und wurde im 19. Jahrhundert verfasst. Er war bekannt für seine romantische Lyrik und gehört zu den wichtigen Vertretern der Schwäbischen Schule.

Der erste Eindruck des Gedichts deutet auf eine tiefe Emotionalität und Reflexivität des lyrischen Ichs hin. Die Beschreibungen sind sehr plastisch und versetzen die Leser*innen mitten in die landschaftlichen Details, die das lyrische Ich durchlebt.

Das Gedicht erzählt von der Rückkehr des lyrischen Ichs an einen Ort in Urach, den es in der Vergangenheit geliebt hat. Es fühlt sich, als ob es in einem Traum wäre, als ob es etwas Vergangenes, fast Unwirkliches wiedererlebt. Dieser Ort erweckt tiefe Gefühle und Erinnerungen; einige davon sind schön und erfüllen das lyrische Ich mit Freude, während andere schmerzhaft sind. Inmitten all dessen fühlt sich das lyrische Ich verwirrt und mit der Natur verbunden, gleichzeitig aber sieht es die Kluft zwischen menschlichem Gefühl und der Unbeirrbarkeit der Natur. Am Ende spürt es die Energie eines aufziehenden Sturms und scheint erneuert und gestärkt zu sein.

Was die Form des Gedichts betrifft, besteht es aus elf gleich gebauten achtsilbigen Strophen, jede mit acht Versen. Die Struktur ist durchgängig und trägt zur Lesbarkeit und zum Fluss des Gedichts bei.

Die Sprache ist reich an bildlichen Darstellungen und emotionaler Tiefe. Jede Strophe ist voll von detaillierten Beschreibungen der Natur - von „besonnten Felsen“ und „alten Wolkenstühlen“ über „Mückenstümpfen“ und „urbemoosten Wasserzellen“ bis hin zu „üppenen Schattengründen“. Durch diese detaillierten Darstellungen kann der Leser oder die Leserin die Erfahrungen des lyrischen Ichs auf nahezu sensorische Weise nachvollziehen. Dabei verwendet Mörike eine präzise und zugleich lyrische Sprache, die den emotionalen Tiefgang des Gedichts verstärkt.

Zusammengefasst handelt es sich bei „Besuch in Urach“ um ein intensives lyrische Werk, das die emotionale Reise des lyrischen Ichs durch einen vertrauten und gleichzeitig fremden Ort erforscht. Es ist ein Gedicht, das sowohl Schönheit als auch Schmerz des Lebens und die Komplexität menschlicher Emotionen aufgreift, wobei es die Spannung zwischen Mensch und Natur hervorhebt.

Weitere Informationen

Eduard Mörike ist der Autor des Gedichtes „Besuch in Urach“. 1804 wurde Mörike in Ludwigsburg geboren. Im Zeitraum zwischen 1820 und 1875 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Biedermeier zuordnen. Der Schriftsteller Mörike ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 96 Versen mit insgesamt 12 Strophen und umfasst dabei 669 Worte. Weitere Werke des Dichters Eduard Mörike sind „Elfenlied“, „Er ist’s“ und „Gebet“. Zum Autor des Gedichtes „Besuch in Urach“ haben wir auf abi-pur.de weitere 171 Gedichte veröffentlicht.

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