Christnacht von Karl Henckell

Der Kaiser rief: „Reserve her!
Ins Glied, getreue Herden!
Allein Gott in der Höh sei Ehr’!
Schlagt an das Repetiergewehr,
Und Friede sei auf Erden!“
Choräle schallen in schimmernden Hallen,
Der Pfaff schrie: „Jesus machte uns gleich.
Den Menschenkindern ein Wohlgefallen,
In einer Krippe das Himmelreich!“
 
10 
Der Engel zu Kommerzrats kam
11 
Mit Atlaskleid und Schleppe,
12 
Mit Flittertand und Flatterkram,
13 
Dekolletiert und ohne Scham
14 
Wie eine feine Schneppe.
15 
Bei Schnepfendrecke und Austerngeschlecke
16 
Der Börsenkönig sein Bäuchlein strich,
17 
Champagnerpfropfen knallten zur Decke –
18 
Jesus von Nazareth, freue dich!
 
19 
Durch eisige Gassen schritt der Wind
20 
In weißem Totenkleide
21 
Und mähte auf dem Weg geschwind
22 
Ein ausgezehrtes Bettelkind
23 
Mit seines Messers Schneide.
24 
Pfiff um ein fadenscheiniges Dach,
25 
Fuhr durch den Schornstein ins Zimmer,
26 
Da tönte schwach durchs Bodengemach
27 
Eines Säuglings flehend Gewimmer.
 
28 
Die Mutter trug ihn auf dem Arm:
29 
Wie stillt sie sein Verlangen?
30 
Ihr Auge hohl von langem Harm,
31 
Und Kinder rings, daß Gott erbarm!
32 
Mit kreidebleichen Wangen.
33 
Die Hungergeister tanzten den Reigen,
34 
Das Unheil hockt’ auf dem Ofenrost,
35 
Der Jammer hub an Krescendo zu geigen,
36 
Die Not fraß Spinnen als Vesperkost.
 
37 
Da starrt der ausgesperrte Mann,
38 
Sah Weib und Kinder weinen
39 
Und sann und starrte, starrt’ und sann
40 
Und schrie die nackten Wände an:
41 
„Brot, Brot! Brot für die Meinen!“
42 
Weil mit eigener Hand für seinen Stand
43 
Er gewählt nach Pflicht und Gewissen,
44 
Hat mit eigener Hand ihm der Fabrikant
45 
Seinen Lohn vor die Füße geschmissen ...
 
46 
Die Türe seufzte jämmerlich:
47 
Gebt Raum dem Polizisten!
48 
Der alte Scherge schämte sich:
49 
„Ausweisungsordre – dauert mich –
50 
Doch Ihr seid Sozialisten.“
51 
Tür kracht. Wie Eisenrädergeschmetter
52 
Brach der gemarterte Lohnsklav los:
53 
„Fluch, Fluch! Ein höllisches Donnerwetter
54 
Schleudre die Schurken in Jesu Schoß!“
 
55 
Wie wenn des Dampfes Schwall, gezwängt
56 
In die metallne Fessel,
57 
Urplötzlich wild nach außen drängt
58 
Und unaufhaltsam treibt und sprengt
59 
Und zischend leert den Kessel:
60 
So schoß dem Eisendreher empor
61 
Aus dem erzgepanzerten Herzen
62 
Mit Zischen und Brausen ein brodelnder Chor,
63 
Der dampfende Gischt seiner Schmerzen.
 
64 
„Die Ketten klirren Hohn und Spott,
65 
Die Ketten klirr’n im Nacken,
66 
Uns hilft kein Heiland, hilft kein Gott,
67 
Die Ketten klirren Hohn und Spott,
68 
Die Ketten klirr’n im Nacken.
69 
Zu feiernder Stund’, wo im Weltenrund
70 
Halleluja! die Engel trompeten,
71 
In des Elends Schlund wie ein räudiger Hund,
72 
Wie ein räudiger Hund getreten!“
 
73 
Er schwang den Hammer in der Faust
74 
Und wuchs empor, ein Grauen;
75 
Die Kinder vor dem Vater graust,
76 
Er schwang den Hammer in der Faust,
77 
Entsetzlich anzuschauen.
78 
Und wie von prophetischem Geist entbrannt,
79 
Im Hirne verheerende Gluten,
80 
Umspannt er des ältesten Knaben Hand,
81 
Seine Worte fluten und bluten:
 
82 
„Ich hör’s und seh’s: das Rottuch weht,
83 
Im Sturmschritt die Kolonnen;
84 
Eilt, Brüder, eilt! – was kommt ihr spät?
85 
Hoch auf der Barrikade steht
86 
Das Häuflein blutberonnen.
87 
Die Lücke schließt! Kartätschen prasseln,
88 
Des Kaisers Garden – Genossen, Sturm!
89 
Kommandorufe! Kanonen rasseln,
90 
Die Glocken heulen von Turm zu Turm.
 
91 
Nun schwöre deinem Vater, Sohn,
92 
In heiliger Freiheit Namen,
93 
Zum Todeskampf mit Schmach und Fron
94 
Den Eid der Revolution –
95 
Und sei kein Schurke! Amen.“
96 
Hohl heulte vermummte Verschwörergesänge
97 
Der Wind im Ofen mit dräuendem Ton
98 
Und trieb mit des Aschenvolks totem Gemenge
99 
Eine frische, fröhliche Rebellion.
 
100 
– – – – – – – – – – – – –
 
101 
Der Scherge stieß sie vor sich her
102 
Wie eine Hammelherde.
103 
Allein Gott in der Höh sei Ehr’! –
104 
Ein roher Knuff zur Wegeszehr –
105 
Und Frieden auf der Erde!
106 
Choräle schallen, Sektpfropfen knallen,
107 
Lump, stirb, verdirb, du roter Hallunk!
108 
Den Menschenkindern ein Wohlgefallen,
109 
Dem Kanzler Fackeln und Minnetrunk!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (33 KB)

Details zum Gedicht „Christnacht“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
109
Anzahl Wörter
561
Entstehungsjahr
1883-1886
Epoche
Realismus,
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Christnacht“ stammt von Karl Henckell, einem deutschen Dichter und Übersetzer, der im Zeitalter des Naturalismus und Symbolismus aktuell war. Geboren 1864 und gestorben im Jahre 1929, engagierte er sich politisch stark in der Arbeiterschaft und war ein bedeutender Literat seiner Zeit.

Auf den ersten Blick scheint es sich um ein sehr langes und detailliertes Gedicht zu handeln, das von den Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten des Lebens erzählt. Es beschreibt verschiedene Szenen und Ereignisse, die von einer eindringlichen und emotional verstörenden Qualität sind.

Das Gedicht handelt von den Kontrasten zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und der sozialen Ungerechtigkeit dieser Zeit. Der Autor kritisiert das Verhalten der oberen Schichten und der Kirche gegenüber den armen Menschen. Er beschreibt, wie trotz der Feier der Christnacht die Reichen weiterhin in Luxus schwelgen, während die Armen und Unterschicht leidet. Das lyrische Ich kann als eine Art Erzähler oder Beobachter der verschiedenen Szenen verstanden werden, dessen Absicht es ist, die Missstände in der Gesellschaft aufzuzeigen und zur Reflexion anzuregen.

Formal besteht das Gedicht aus 13 Strophen zu jeweils neun Versen. Es handelt sich hierbei um ein gereimtes Gedicht, dessen Reimschema flexibel ist und sich von Strophe zu Strophe ändert. Die Sprache des Gedichts wechselt zwischen einem eher volkstümlichen und einem hohen Ton, abhängig von den dargestellten Szenen und den beteiligten Charakteren.

In Bezug auf die Sprache wird eine eher drastische und bildhafte Ausdrucksweise verwendet, die das Leid und die Ungerechtigkeit sehr deutlich darstellt. Zugleich werden biblische und kirchliche Bezüge verwendet, um die Heuchelei der gesellschaftlichen Eliten und der Kirche hervorzuheben.

Insgesamt bietet das Gedicht von Karl Henckell eine eindringliche Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit und fordert zu sozialer Gerechtigkeit auf. Es reflektiert die Lebensrealität vieler Menschen in dieser Ära und äußert einen starken Wunsch nach Veränderung. Dabei nutzt es poetische Mittel sehr effektiv, um seine Botschaft zu vermitteln.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Christnacht“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Karl Henckell. Geboren wurde Henckell im Jahr 1864 in Hannover. Im Jahr 1886 ist das Gedicht entstanden. In München ist der Text erschienen. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Realismus oder Naturalismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 561 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 109 Versen mit insgesamt 13 Strophen. Karl Henckell ist auch der Autor für Gedichte wie „Mein Neujahrswunsch“, „Suum cuique!“ und „Ulrich von Hutten“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Christnacht“ weitere 21 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Karl Henckell (Infos zum Autor)

Zum Autor Karl Henckell sind auf abi-pur.de 21 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.