An Karl Mayer von Eduard Mörike

Dem gefangenen, betrübten Manne
Hinter seinen dichten Eisenstäben,
Wenn ihm jemand deine holden Lieder
Aufs Gesimse seines Fensters legte,
 
Wo die liebe Sonne sich ein Stündlein
Täglich einstellt, handbreit nur ein Streifchen:
O wie schimmerten ihm Wald und Auen
Sommerlich, die stillen Wiesengründe!
O wie hastig irrten seine Schritte
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Durch die tausend Lieblichkeiten alle,
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Ohne Wahl, was er zuerst begrüße:
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Ob das Dörflein in der Sonntagfrühe,
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Wo die frische Dirne sich im Gärtchen
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Einen Busenstrauß zur Kirche holet;
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Ob die Trümmer, wo das Laub der Birke
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Herbstlich rieselt aufs Gestein hernieder,
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Drüberhin der Weih im Fluge schreiend;
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Und den See dort einsam in der Wildnis
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Übergrünt von lichten Wasserlinsen.
 
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Wär ich, wär ich selber der Gefangne!
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Sperrten sie mich ein auf sieben Monde!
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Herzlich wollt ich dann des Schließers lachen,
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Wenn er dreifach meine Tür verschlösse,
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Mich allein mit meinem Büchlein lassend.
 
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Aber wenn doch endlich insgeheime
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Eine tiefe Sehnsucht mich beschliche,
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Daß ich trauerte um Wald und Wiesen?
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Ha! wie sehn ich mich, mich so zu sehnen!
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Reizend wär's, den Jäger zu beneiden,
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Der in Freiheit atmet Waldesatem,
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Und den Hirten, wenn er nach Mittage
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Ruhig am besonnten Hügel lehnet!
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Sieh, so seltsam sind des Herzens Wünsche,
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Das sich müßig fühlt im Überflusse.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.3 KB)

Details zum Gedicht „An Karl Mayer“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
34
Anzahl Wörter
204
Entstehungsjahr
1804 - 1875
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht wurde von Eduard Mörike verfasst, einem der bedeutsamsten deutschen Lyriker des 19. Jahrhunderts. Es trägt den Titel „An Karl Mayer“ und kann in die Epoche der Romantik eingeordnet werden.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht eindeutig an eine besondere Person, Karl Mayer, gerichtet ist und ein Gefühl der Intimität und persönlichen Bindung vermittelt.

In dem Gedicht gibt das lyrische Ich seinem Freund Karl Mayer Einblick in seine Gedanken und Gefühle. Es reflektiert über die Kraft der Poesie und Lerse als Medium, um Trost zu spenden und die Leere der Gefangenschaft zu durchbrechen. Das lyrische Ich vergleicht das Lesen von Gedichten mit dem Genuss von natürlicher Schönheit und Freiheit – eine Erfahrung, die die Beschränkungen der Gefangenschaft aufhebt.

Inhaltlich beginnt das Gedicht damit, einen gefangenen Menschen zu beschreiben, der durch Gedichte Trost findet. Im darauffolgenden Teil schwelgt das lyrische Ich in den Bildern und Vorstellungen, die die Poesie in seinem Kopf hervorruft. Letztendlich stellt das lyrische Ich sogar die verführerische Idee auf, dass es selbst sich danach sehnt, in Gefangenschaft zu sein, um diese bemerkenswerten geistigen Abenteuer zu erleben.

Formal ist das Gedicht in vier verschiedene Strophen unterteilt, die jeweils eine unterschiedliche Anzahl an Versen enthalten. Es verwendet eine reichhaltige, bildliche Sprache und schafft so eine intensive und lebendige Vorstellungskraft. Das Gedicht spielt auch mit verschiedenen Zeiten und Räumen und bewegt sich zwischen der physischen Realität der Haft und der geistigen Freiheit der Poesie.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Mörikes Gedicht „An Karl Mayer“ eine Reflexion über die Macht der Poesie ist, eine Flucht aus der tristen Realität zu bieten und das Leben in der Gefangenschaft erträglicher zu machen. Es ist auch ein Hinweis auf die paradoxen Wünsche des Herzens, insbesondere die Sehnsucht nach Traurigkeit oder Leiden, um die Fülle der Empfindungen spüren zu können.

Weitere Informationen

Das Gedicht „An Karl Mayer“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Eduard Mörike. 1804 wurde Mörike in Ludwigsburg geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1820 und 1875. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Biedermeier kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Mörike ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 204 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 34 Versen. Weitere Werke des Dichters Eduard Mörike sind „Er ist’s“, „Gebet“ und „Im Frühling“. Zum Autor des Gedichtes „An Karl Mayer“ haben wir auf abi-pur.de weitere 171 Gedichte veröffentlicht.

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