Chidhr von Otto Ernst
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Ein wunderbarer Traum hat mich besucht. |
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Ich saß an eines Berges Hang und schaute, |
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In einer flüchtigen Minute Raum |
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Gedrängt, den Daseinswechsel langer Zeiten. |
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Im Tal zu meinen Füßen sah ich Blumen |
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Auf Blumen sich erschließen und vergehn, |
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Sah Bäum’ und Sträucher keimen ich und sprossen |
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Und wachsen, blühen, welken und vermodern, |
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Und sah ich Menschen von der Wiege bis |
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Zum Sarg des Lebens kurzen Tag durchwandeln. |
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Ich sah sie lachen, weinen – weinen, lachen, |
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Sah sie verzweifeln, hoffen und – verzweifeln, |
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Sah, wie das Glück dem Unglück reicht die Rechte, |
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Wie Unglück seine Rechte reicht dem Glück |
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In ewiger Kette. |
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Namenlose Trauer |
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Sank mir mit schweren Schatten in die Seele. |
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„Wann endlich,“ dacht’ ich, „sinnlos-blödes Spiel, |
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Wirst du dich enden? Auf und ab und auf |
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Wiegt seit Äonen sich die Lebensschaukel |
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– Auf einer Seite staunend sitzt das Leben, |
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Und auf der andern grinsend wippt der Tod – |
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Und auf und ab, stumpfsinnig, wird die Wippe |
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Durch Ewigkeiten gehn. Wo lebt der Gott, |
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Den dieses grause Einerlei vergnügt? |
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Der ärmste Menschengeist, er hätte längst |
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Voll Überdruß und Ekel dieses Spielzeug |
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Zertrümmert –!“ |
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Wie ich also bei mir dachte, |
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Sah ich am Boden plötzlich einen Schatten – |
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Ich hob den Blick, und einen Jüngling sah ich |
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Mit himmelsheit’rer Stirn, wie junge Rosen |
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Der frohe Mund, das Auge sonnentief. |
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Er hob den Arm und winkte freundlich „Komm!“ |
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„Wer bist du?“ rief ich. Er drauf: „Chidhr bin ich, |
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Der Grüne, Ewig-junge, der im Lande |
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Der Finsternis des Lebens Quellen hütet. |
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Komm, folge mir.“ |
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Und Falterflug des Traumes |
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Entführte mich auf lautlos dunklen Schwingen |
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In eine schreckendüst’re Felsenwelt. – |
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Doch sieh, aus tiefem Spalt granit’ner Berge |
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Sprang bläulich-silbern einer Quelle Strahl, |
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Der wie ein ewig junges Lachen klang. |
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Und Chidhr sprach: „In hundert Jahren furcht |
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Der ruhlos rege Quell sein hartes Bette |
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Um eines Fingers Breite. Alexander, |
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Den bis nach Indien trug der Siegeswagen, |
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Stand einst wie du an diesem Lebensquell. |
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Seit jenem Tage grub der Silberstrang |
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Um einen Fuß sich tiefer ins Gestein. |
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Und einst wird diese Quelle im Verein |
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Mit ihren Schwestern diese Felsen wandeln |
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In ein begrüntes Tal, wie du’s verlassen. |
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Hier maß der göttergleiche Alexander |
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Sein Werk und seinen Ruhm am Maß der Welt |
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Und ging von diesem Ort zerstörten Herzens. |
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Und du, der schwach und klein ist bei den Menschen, |
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Kannst, wenn du willst, ein Gott von hinnen gehn. |
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Wohl ihm, dem Freunde sprüht aus dieser Quelle, |
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Wohl ihm, der ihr geheimes Lied versteht. |
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Wohl bleichen ihm die Lichtlein, die den Pfad |
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Ihm durch ein enges Leben schwach erhellten, |
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Die Lichtlein Ruhm, Unsterblichkeit und Macht. |
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Doch hinter weltenweiten Finsternissen |
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Geht eine Sonn’ ihm auf, die alle Sonnen |
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Und Sonnenchöre selig überstrahlt. |
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Er fühlt, wie klein der Mensch, und fühlt, wie groß, |
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Wie unbegreiflich schön, wie über alles |
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Verdienst und Ahnen göttlich sein Beruf, |
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Und aus dem Klang der Quelle trinkt sein Herz |
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Zwei Kräfte wundersam: Geduld und Sehnsucht. |
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Geduld, die heiß und teif verlangt, und Sehnsucht, |
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Die sich am Glanz des Zieles still getröstet. |
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O Menschen, habt Geduld, und tut es nicht |
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Den Kindlein gleich, die in den Boden kaum |
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Den Samen senkten und nach Blumen schon |
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Und reifen Früchten spähn! Taucht die Gedanken |
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Ins märchengraue Alter dieser Welt |
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Und steigt empor dann und erkennt, daß gestern |
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Der Mörder Kain seinen Bruder schlug. |
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Du dachtest recht, mein Freund: wär’ diese Welt |
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Ein Einerlei, die Macht, die sie erschaffen, |
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Sie hätte längst zerstört ihr blödes Spiel. |
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Doch sieh, soweit in diesem Reich des Lebens |
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Die Wasser wandern, hat noch nie ein Quell, |
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Noch nie ein Strom den Weg zurück genommen – |
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So glaube: auch der Srom des Lebens nicht. |
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„Vorwärts, zum Licht!“ das ist der Sinn der Quellen, |
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„Vorwärts, zum Licht!“ das ist der Ströme Sinn, |
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Die deine Seele, deinen Leib durchrinnen. |
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Er, der die Welt gewollt, und dessen Namen |
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Kein endlich Wesen nennen darf noch kann, |
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Er gab, daß eures Wesens tiefste Quellen |
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Zum Lichte gehn – und gab euch, daß ihr’s wißt.“ |
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So sprach der Ewig-junge. Oder sprach’s |
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Der Quell? Im Silberklange rann zusammen, |
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Was Chidhr sprach und was die Quelle sang. |
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Und Falterflug des Traumes hob mich lautlos |
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Von dannen, und vom Tageslicht geblendet, |
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Erwacht’ ich jäh. |
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Am Waldesrand erwacht’ ich, |
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Wo singend aus dem Fels die Quelle springt, |
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Wo Morgenlicht von tausend Himmeln floß. |
Details zum Gedicht „Chidhr“
Otto Ernst
8
104
706
1907
Moderne
Gedicht-Analyse
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Chidhr“ des Autors Otto Ernst. Im Jahr 1862 wurde Ernst in Ottensen bei Hamburg geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1907 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epoche ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das vorliegende Gedicht umfasst 706 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 104 Versen. Die Gedichte „Ausflug“, „Blühendes Glück“ und „Das Gesicht der Wahrheit“ sind weitere Werke des Autors Otto Ernst. Zum Autor des Gedichtes „Chidhr“ haben wir auf abi-pur.de weitere 64 Gedichte veröffentlicht.
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