Göttliche Reminiszenz von Eduard Mörike
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Panta di' autou egeneto. |
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Ev. Joh. 1, 3 |
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Vorlängst sah ich ein wundersames Bild gemalt, |
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Im Kloster der Kartäuser, das ich oft besucht. |
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Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging, |
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Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat, |
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Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir. |
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An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum, |
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Von zweien Palmen überschattet, magre Kost |
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Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang, |
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Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein; |
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Ein weißes Vlies als Polster ist ihm unterlegt. |
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Nicht allzu kindlich deuchte mir das schöne Kind; |
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Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon, |
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Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab |
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Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum, |
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Hat die gesunden, zarten Wangen sanft gebräunt; |
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Aus schwarzen Augen leuchtet stille Feuerkraft, |
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Den Mund jedoch umfremdet unnennbarer Reiz. |
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Ein alter Hirte, freundlich zu dem Kind gebeugt, |
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Gab ihm soeben ein versteinert Meergewächs, |
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Seltsam gestaltet, in die Hand zum Zeitvertreib. |
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Der Knabe hat das Wunderding beschaut, und jetzt, |
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Gleichsam betroffen, spannet sich der weite Blick, |
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Entgegen dir, doch wirklich ohne Gegenstand, |
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Durchdringend ewge Zeitenfernen, grenzenlos: |
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Als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz |
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Der Gottheit, ein Erinnern, das im gleichen Nu |
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Erloschen sein wird; und das welterschaffende, |
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Das Wort von Anfang, als ein spielend Erdenkind |
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Mit Lächeln zeigt's unwissend dir sein eigen Werk. |
Details zum Gedicht „Göttliche Reminiszenz“
Eduard Mörike
3
31
213
1804 - 1875
Biedermeier
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Göttliche Reminiszenz“ stammt von Eduard Mörike, einem der bedeutendsten Dichter der deutschen Romantik, der von 1804 bis 1875 lebte. Das Gedicht entstammt also dem 19. Jahrhundert und steht in der Tradition romantischer Lyrik.
Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht aus drei ungleich großen Strophen besteht, die in einem eher ungewöhnlichen Wechsel von Verslängen und Reimschemata stehen. Mörikes Gedicht, das im lyrischen Ich erzählt wird, ist in erster Linie eine Erinnerung oder Reminiszenz.
Der Inhalt des Gedichts beschreibt eine Szene aus der Kindheit Jesu, die das lyrische Ich in einem Gemälde in einem Kartäuserkloster gesehen hat. Das lyrische Ich erinnert sich an dieses Bild, als es alleine in den Bergen wandert. Es sieht den jungen Jesus, der auf einem Felsen sitzt, umgeben von Ziegen und einem alten Hirten. Der Hirte gibt Jesus einen versteinerten Meeresorganismus zum Spielen; beim Betrachten des Meeressteins schaut Jesus in die Ferne, als ob er sich an seine göttliche Herkunft erinnert.
Die Botschaft des lyrischen Ichs scheint zu sein, dass sogar der göttliche Jesus in seiner menschlichen Kindheit Unschuld und Erstaunen ausdrückte und sich vielleicht seines Göttlichen, allwissenden Ursprungs nur flüchtig bewusst war.
In sprachlicher Hinsicht ist das Gedicht reich an Details und Farben und weist eine sorgfältige, fast malerische Beschreibung der Szene auf. Die Form des Gedichts ist eher unregelmäßig, ohne ein festes Reimschema oder eine gleichmäßige Verslänge, was zu einem freien, erzählerischen Fluss beiträgt. Trotz seiner Dichte und Komplexität wirkt der Text klar und verständlich, nicht abstrakt oder rätselhaft. Er erzählt eine klare Geschichte und charakterisiert deren Protagonisten auf anschauliche Weise.
Schließlich sei angemerkt, dass das Gedicht mit einem Zitat beginnt: „Panta di' autou egeneto“ ist Griechisch und bedeutet „Alles wurde durch ihn gemacht“. Dies ist ein Zitat aus dem Evangelium nach Johannes (1:3) und weist auf den göttlichen Ursprung Jesu und seinen Schöpfungsakt hin. Es dient als thematischer Einstieg und Schlüssel zum Verständnis des Gedichts. So verknüpft Mörike in diesem Gedicht religiöse Idea und persönliche Meditation in der romantischen Lyrik auf einzigartige Weise miteinander.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Göttliche Reminiszenz“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Eduard Mörike. Der Autor Eduard Mörike wurde 1804 in Ludwigsburg geboren. Zwischen den Jahren 1820 und 1875 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Biedermeier zu. Mörike ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 31 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 213 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Eduard Mörike sind „Gesang Weylas“, „Auf eine Christblume“ und „Hülfe in der Not“. Zum Autor des Gedichtes „Göttliche Reminiszenz“ haben wir auf abi-pur.de weitere 171 Gedichte veröffentlicht.
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