Chartres von Joachim Ringelnatz

Kirchenfenster, Kirchenfenster,
Kirchenfenster, Kirchenfenst...
Hoch im Dachgebälk der Kathedrale
Sahen meine Freunde viel Gespenster.
Ich sah nur ein einziges, das internationale,
Ewige, gottfröhliche Gespenst,
Das nicht nur in Kathedralen
Sondern auch im Zöster und im Faust,
Auch in Püffen und in Apfelsinenschalen
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Oder sonstens wo für den und jenen haust.
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Der Professor, welcher im Beruf
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Und bei seinen Leuten
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An sehr erster, prominenter Spitze steht,
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Wußte, wer das alles und wie und warum er’s schuf:
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Und er bat die Freunde, ihn zu bitten, uns zu deuten.
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Und dann konnte er geflüssig, klar und sinnig
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Steine, Formen, Farben lesen.
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Und doch vor den schönen Kirchenfenstern bin ich
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Damals glücklich ganz fernanderswo gewesen.
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Doch dem Kirchendiener hab’ ich lange
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Zugeschaut – das hat mich zweitens intressiert –.
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Wie der Kerl mit einer Eisenstange
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Und mit einem Holzpantoffel raffiniert
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Eine Maus beschlich.
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Ach, die hatte sich
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Scheu verirrt. – Nun mag man nicht vergessen,
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Daß oft Mäuse ohne Ehrfurcht oder Scham:
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Bibeln, Samt und Christusnasen fressen.
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Doch ich freute mich
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Ungeheuerlich,
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Als die Kirchenmaus dem Kirchendiener doch entkam.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Chartres“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
31
Anzahl Wörter
173
Entstehungsjahr
1933
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Joachim Ringelnatz, ein deutscher Schriftsteller und Maler, bekannt für seine humoristischen und satirischen Gedichte, ist der Autor des Gedichts „Chartres“. Ringelnatz lebte von 1883 bis 1934, daher kann das Gedicht in die literarische Epoche der Neuen Sachlichkeit und des Expressionismus eingeordnet werden.

Der erste Eindruck des Gedichts ist geprägt von einer heiteren und humoristischen Atmosphäre, die charakteristisch für Ringelnatz‘ Werke ist. Der Titel „Chartres“ verweist auf die französische Stadt, bekannt für ihre gotische Kathedrale mit den beeindruckenden Kirchenfenstern.

In dem Gedicht schildert das lyrische Ich eine Begebenheit in der Kathedrale von Chartres. Während seine Freunde von den Gespenstern fasziniert sind, welche durch das Dachgebälk wandeln, sieht das lyrische Ich lediglich ein einziges Gespenst, welches es überall zu finden meint, selbst in den ungewöhnlichsten Orten wie Apfelsinenschalen. Des Weiteren erzählt es von einem Professor, der versucht, die Bedeutung der Gespenster für die anderen zu erklären. Jedoch schweift das lyrische Ich ab und ist an der Jagd des Kirchendieners nach einer Maus interessiert, die frech in der Kirche umherschlendert. Am Ende des Gedichts freut sich das lyrische Ich, als die Kirchenmaus es schafft, dem Kirchendiener zu entkommen.

Die Intention des lyrischen Ichs ist es, zu veranschaulichen, dass die Wahrnehmung von Spiritualität und Heiligkeit individuell ist und manchmal auch in den banalsten Dingen gefunden werden kann. Während die anderen von übernatürlichen Phänomenen fasziniert sind, ist das lyrische Ich eher von der Komik und dem Spiel der natürlichen Welt fasziniert.

Das Gedicht besteht aus 31 Versen, die in freier Form, ohne klar erkennbares Reimschema oder Metrum, geschrieben sind. Die Sprache ist leicht und humorvoll, gespickt mit alltäglichen und oft skurrilen Assoziationen und Metaphern. Der Ton ist gespenstisch und gleichzeitig lustig, was ein Markenzeichen von Ringelnatz ist. Es wird oft eine Kontrastierung von Heiligem und Profanem vorgenommen, was auf Ringelnatz‘ Tendenz zur Destruktion von Idealen hindeutet.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Ringelnatz in „Chartres“ auf humorvolle Weise die Individualität der Wahrnehmung und Erfahrung von Spiritualität und Heiligkeit hervorhebt, indem er die Erwartungen der Leser durch die unerwarteten Beschreibungen und Ereignisse unterläuft.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Chartres“ des Autors Joachim Ringelnatz. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. Im Jahr 1933 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne oder Expressionismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 31 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 173 Worte. Weitere Werke des Dichters Joachim Ringelnatz sind „Abschiedsworte an Pellka“, „Afrikanisches Duell“ und „Alone“. Zum Autor des Gedichtes „Chartres“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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