Capriccio von Paul Boldt

Entlaubte Parke liegen treu wie Doggen
Hinter den Herrenhäusern, um zu wachen.
Schneestürme weiden, eine Herde Bachen.
Oft sind die Rehe auf dem jungen Roggen.
 
Und eine Wolke droht den Mond zu schänden.
Die Nacht hockt auf dem Park, der stärker rauscht.
Zwei alte Tannen winken, aufgebauscht,
Geheimnisvoll mit den harzigen Händen.
 
Die Toten sitzen in den nassen Nischen.
10 
Auf einem Kirchenschlüssel bläst der eine,
11 
Und alle lauschen, überkreuzte Beine,
12 
Die Knochenhände eingeklemmt dazwischen.
 
13 
Am großen, kalten Winterhimmel drohn
14 
Vier Wolken, welche Pferdeschädeln gleichen.
15 
Der Winde Brut pfeift in den hellen Eichen,
16 
Daraus der gelbe Geier Mond geflohn.
 
17 
Der Tod im Garten tritt jetzt aus dem Schatten
18 
Der Tannen. Rasch. Das Schneelicht spritzt und glänzt.
19 
Der Schrecken flattert breit um das Gespenst,
20 
Das seinen Weg nimmt quer durch die Rabatten.
 
21 
Zum Schloß. — Dort ruft man: „Prosit Neujahr! Prost!“
22 
Zu zwölfen sind sie, der Apostel Schar,
23 
Und mit Champagner taufen sie das Jahr,
24 
Umstellt vom Sturm, der auf den Dächern tost.
 
25 
Armleuchter flacken. Dampf von heißem Punsch.
26 
Der Hitze Salven krachen vom Kamin.
27 
Geruch der Weiber — Trimethylamin,
28 
Die Bäuche schwitzen in der großen Brunst.
 
29 
Jetzt stehn sie auf. Das Stühlerücken schurrt.
30 
Der Tod im Flur ist nicht gewohnt die Speisen.
31 
Er hebt den Kopf gegen das kalte Eisen
32 
Der Schlüsseltülle, schnuppert gierig, knurrt.
 
33 
Kommt jemand? Still. Er hupft unter die Treppe.
34 
An einem Fräulein zerrt ein Kavalier.
35 
Der Tod schleicht hinterher, ein fletschend Tier
36 
Aus Mond; das trägt der Dame Schleppe.
 
37 
Sie kommen an die Gruft —: „Hier sind wir sicher!“
38 
— „Ich fürchte mich, oh, sind die Bäume groß!“
39 
Der Tod schupst sie — kein Schrei, sie quieken bloß —
40 
Und läuft hinweg mit heftigem Gekicher. — —
 
41 
Es dämmert endlich. Mit Blutaugen stiert
42 
Der Morgen hin. Im Saal zappelt ein Märchen.
43 
Der Tod wühlt in den fetten, welken Pärchen,
44 
Frißt sie wie Trüffeln, die ein Schwein aufspürt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.4 KB)

Details zum Gedicht „Capriccio“

Autor
Paul Boldt
Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
302
Entstehungsjahr
1914
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht trägt den Titel „Capriccio“ und wurde von Paul Boldt, einem deutschen Dichter des Expressionismus, geschrieben. Boldt lebte von 1885 bis 1921, bei der Interpretation des Gedichtes muss also der Zeitkontext dieser Epoche beachtet werden. Diese war geprägt von gesellschaftlichen, politischen und kunsthistorischen Entwicklungen, die auch starken Einfluss auf die Literatur hatten. Der Expressionismus, zu dessen Vertretern Paul Boldt gehörte, zeichnet sich durch eine intensive, emotive und oft dramatische Darstellung von Gefühlen und Gedanken aus.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht düster und unheimlich, gezeichnet von Tod, Dunkelheit und Kälte. Der Winter wird als Bedrohung und Verfall beschrieben. Die Natur wirkt feindlich und ungemütlich.

Der Inhalt lässt sich grob wie folgt zusammenfassen: Das lyrische Ich schildert eine winterliche Landschaft mit einem verlassenen Park und einem Herrenhaus. Es wird eine düstere Szene eines Neujahrsfestes beschrieben, bei dem die Feiernden scheinbar unbeeindruckt vom tobenden Sturm und der bedrohlichen Außenwelt sind. Es wird eine Begegnung mit dem personifizierten Tod beschrieben, welcher die Szenerie ständig überschattet und letztlich die feiernden Gäste „frisst“.

Es lässt sich deuten, dass das lyrische Ich die Vergänglichkeit des Lebens und die Ignoranz der Menschen gegenüber dem Unvermeidlichen - dem Tod - darstellt. Es wirkt als wäre der Mensch mit seinen Feierlichkeiten und Vergnügungen nur kurzzeitig abgelenkt und letztlich nicht in der Lage, dem unausweichlichem Tod zu entrinnen.

Das Gedicht ist stark durch die expressionistischen Motive des Todes, der Nacht und der winterlichen Natur geprägt. Es besteht aus Elf Strophen zu je vier Versen, die allerdings keiner regelmäßigen Reimschema folgen, was typisch für Gedichte in freien Versen ist. Sprachlich zeichnet sich das Gedicht durch eine reiche und bildhafte metaphorische Sprache aus, die dabei hilft, die düstere Atmosphäre und die bedrohliche Präsenz des Todes zu vermitteln. Die Wortwahl ist teils bizarr und ungewöhnlich, was die unheimliche Stimmung des Gedichtes unterstreicht.

Insgesamt ist „Capriccio“ von Paul Boldt also ein ausdrucksstarkes Gedicht, das ein eindringliches Bild des Todes und dessen unausweichlicher Präsenz malt. Es wirft Fragen nach der Vergänglichkeit, dem Leben und dem Tod auf und kritisiert die Oberflächlichkeit und Kurzweiligkeit von Vergnügungen und Festlichkeiten. Mit seiner düsteren Stimmung und seiner bildhaften, manchmal sogar makabren Sprache ist es ein gutes Beispiel für die expressionistische Dichtung.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Capriccio“ ist Paul Boldt. Der Autor Paul Boldt wurde 1885 in Christfelde bei Preußisch-Friedland (Westpreußen) geboren. Im Jahr 1914 ist das Gedicht entstanden. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne oder Expressionismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das 302 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 11 Strophen. Der Dichter Paul Boldt ist auch der Autor für Gedichte wie „Abendavenue“, „Adieu Mädchenlachen!“ und „Andere Jüdin“. Zum Autor des Gedichtes „Capriccio“ haben wir auf abi-pur.de weitere 49 Gedichte veröffentlicht.

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