Bürgerlied von Friedrich Schiller

Windet zum Kranze die goldenen Aehren
Flechtet auch blaue Cyanen hinein,
Freude soll jedes Auge verklären,
Denn die Königin ziehet ein,
Die Bezähmerin wilder Sitten,
Die den Menschen zum Menschen gesellt,
Und in friedliche feste Hütten
Wandelte das bewegliche Zelt.
 
Scheu in des Gebürges Klüften
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Barg der Troglodyte sich,
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Der Nomade ließ die Triften
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Wüste liegen wo er strich,
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Mit dem Wurfspieß, mit dem Bogen
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Schritt der Jäger durch das Land.
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Weh dem Fremdling den die Wogen
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Warfen an den Unglücksstrand!
 
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Und auf ihrem Pfad begrüßte
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Irrend nach des Kindes Spur,
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Ceres die verlaßne Küste,
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Ach, da grünte keine Flur!
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Daß sie hier vertraulich weile,
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Ist kein Obdach ihr gewährt,
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Keines Tempels heitre Säule
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Zeuget, daß man Götter ehrt.
 
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Keine Frucht der süßen Aehren
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Lädt zum reinen Mahl sie ein,
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Nur auf gräßlichen Altären
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Dorret menschliches Gebein.
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Ja, so weit sie wandernd kreiste,
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Fand sie Elend überall,
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Und in ihrem großen Geiste
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Jammert sie des Menschen Fall.
 
33 
Find ich so den Menschen wieder,
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Dem wir unser Bild geliehn,
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Dessen schöngestalte Glieder
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Droben im Olympus blühn?
 
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Gaben wir ihm zum Besitze
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Nicht der Erde Götterschoos,
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Und auf seinem Königsitze
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Schweift er elend, heimatlos?
 
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Fühlt kein Gott mit ihm Erbarmen,
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Keiner aus der Selgen Chor
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Hebet ihn mit Wunderarmen
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Aus der tiefen Schmach empor?
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In des Himmels selgen Höhen
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Rühret sie nicht fremder Schmerz,
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Doch der Menschheit Angst und Wehen
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Fühlet mein gequältes Herz.
 
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Daß der Mensch zum Menschen werde,
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Stift er einen ewgen Bund
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Glaubig mit der frommen Erde,
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Seinem mütterlichen Grund,
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Ehre das Gesetz der Zeiten
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Und der Monde heilgen Gang,
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Welche still gemessen schreiten
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Im melodischen Gesang.
 
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Und den Nebel theilt sie leise
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Der den Blicken sie verhüllt,
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Plötzlich in der Wilden Kreise
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Steht sie da, ein Götterbild.
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Schwelgend bei dem Siegesmahle
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Findet sie die rohe Schaar,
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Und die Blutgefüllte Schaale
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Bringt man ihr zum Opfer dar.
 
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Aber schaudernd, mit Entsetzen,
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Wendet sie sich weg und spricht:
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Blutge Tigermahle netzen
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Eines Gottes Lippen nicht.
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Reine Opfer will er haben,
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Früchte, die der Herbst bescheert,
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Mit des Feldes frommen Gaben
72 
Wird der Heilige verehrt.
 
73 
Und sie nimmt die Wucht des Speeres
74 
Aus des Jägers rauher Hand,
75 
Mit dem Schaft des Mordgewehres
76 
Furchet sie den leichten Sand,
 
77 
Nimmt von ihres Kranzes Spitze
78 
Einen Kern, mit Kraft gefüllt,
79 
Senkt ihn in die zarte Ritze,
80 
Und der Trieb des Keimes schwillt –
 
81 
Und mit grünen Halmen schmücket
82 
Sich der Boden alsobald,
83 
Und so weit das Auge blicket
84 
Wogt es wie ein goldner Wald.
85 
Lächelnd segnet sie die Erde,
86 
Flicht der ersten Garbe Bund,
87 
Wählt den Feldstein sich zum Heerde,
88 
Und so spricht der Göttinn Mund:
 
89 
Vater Zeus, der über alle
90 
Götter herrscht in Aethers Höhn!
91 
Daß dieß Opfer dir gefalle,
92 
Laß ein Zeichen jetzt geschehn!
93 
Und dem unglückselgen Volke,
94 
Das dich Hoher! noch nicht nennt,
95 
Nimm hinweg des Auges Wolke,
96 
Daß es seinen Gott erkennt!
 
97 
Und es hört der Schwester Flehen
98 
Zeus auf seinem hohen Sitz,
99 
Donnernd aus den blauen Höhen
100 
Wirft er den gezackten Blitz.
101 
Prasselnd fängt es an zu lohen,
102 
Hebt sich wirbelnd vom Altar,
103 
Und darüber schwebt in hohen
104 
Kreisen sein geschwinder Aar.
 
105 
Und gerührt zu der Herrscherin Füßen
106 
Stürzt sich der Menge freudig Gewühl,
107 
Und die rohen Seelen zerfließen
108 
In der Menschlichkeit erstem Gefühl,
109 
Werfen von sich die blutige Wehre,
110 
Oeffnen den düstergebundenen Sinn,
111 
Und empfangen die göttliche Lehre
112 
Aus dem Munde der Königin.
 
113 
Und von ihren Thronen steigen
114 
Alle Himmlischen herab,
115 
Themis selber führt den Reigen,
116 
Und mit dem gerechten Stab
 
117 
Mißt sie jedem seine Rechte,
118 
Setzet selbst der Grenze Stein,
119 
Und des Styx verborgne Mächte
120 
Ladet sie zu Zeugen ein.
 
121 
Und es kommt der Gott der Esse,
122 
Zeus erfindungsreicher Sohn,
123 
Bildner künstlicher Gefäße,
124 
Hochgelehrt in Erzt und Thon.
125 
Und er lehrt die Kunst der Zange
126 
Und der Blasebälge Zug,
127 
Unter seines Hammers Zwange
128 
Bildet sich zuerst der Pflug.
 
129 
Und Minerva, hoch vor allen
130 
Ragend mit gewichtgem Speer,
131 
Läßt die Stimme mächtig schallen
132 
Und gebeut dem Götterheer.
133 
Feste Mauren will sie gründen,
134 
Jedem Schutz und Schirm zu seyn,
135 
Die zerstreute Welt zu binden
136 
In vertraulichem Verein.
 
137 
Und sie lenkt die Herrscherschritte
138 
Durch des Feldes weiten Plan,
139 
Und an ihres Fußes Tritte
140 
Heftet sich der Grenzgott an,
141 
Messend führet sie die Kette
142 
Um des Hügels grünen Saum,
143 
Auch des wilden Stromes Bette
144 
Schließt sie in den heilgen Raum.
 
145 
Alle Nymphen, Oreaden,
146 
Die der schnellen Artemis
147 
Folgen auf des Berges Pfaden,
148 
Schwingend ihren Jägerspieß,
149 
Alle kommen, alle legen
150 
Hände an, der Jubel schallt,
151 
Und von ihrer Aexte Schlägen
152 
Krachend stürzt der Fichtenwald.
 
153 
Auch aus seiner grünen Welle
154 
Steigt der Schilfbekränzte Gott,
155 
Wälzt den schweren Floß zur Stelle
156 
Auf der Göttinn Machtgebot,
 
157 
Und die leichtgeschürzten Stunden
158 
Fliegen ans Geschäft, gewandt,
159 
Und die rauhen Stämme runden
160 
Zierlich sich in ihrer Hand.
 
161 
Auch den Meergott sieht man eilen,
162 
Rasch mit des Tridentes Stoß,
163 
Bricht er die granitnen Säulen
164 
Aus dem Erdgerippe los,
165 
Schwingt sie in gewaltgen Händen
166 
Hoch wie einen leichten Ball,
167 
Und mit Hermes dem behenden
168 
Thürmet er der Mauren Wall.
 
169 
Aber aus den goldnen Saiten
170 
Lockt Apoll die Harmonie,
171 
Und das holde Maaß der Zeiten
172 
Und die Macht der Melodie.
173 
Mit neunstimmigem Gesange
174 
Fallen die Kamönen ein,
175 
Leise nach des Liedes Klange
176 
Füget sich der Stein zum Stein.
 
177 
Und der Thore weite Flügel
178 
Setzet mit erfahrner Hand
179 
Cybele und fügt die Riegel
180 
Und der Schlösser festes Band,
181 
Schnell durch rasche Götterhände
182 
Ist der Wunderbau vollbracht,
183 
Und der Tempel heitre Wände
184 
Glänzen schon in Festes Pracht.
 
185 
Und mit einem Kranz von Myrten
186 
Naht die Götterkönigin,
187 
Und sie führt den schönsten Hirten
188 
Zu der schönsten Hirtin hin.
189 
Venus mit dem holden Knaben
190 
Schmücket selbst das erste Paar,
191 
Alle Götter bringen Gaben,
192 
Reiche, den Vermählten dar.
 
193 
Und die neuen Bürger ziehen,
194 
Von der Götter selgem Chor
195 
Eingeführt, mit Harmonieen
196 
In das gastlich ofne Thor,
 
197 
Und das Priesteramt verwaltet
198 
Ceres am Altar des Zeus,
199 
Segnend ihre Hand gefaltet
200 
Spricht sie zu des Volkes Kreis.
 
201 
Freiheit liebt das Thier der Wüste,
202 
Frei im Aether herrscht der Gott,
203 
Ihrer Brust gewaltge Lüste
204 
Zähmet das Naturgebot,
205 
Doch der Mensch, in ihrer Mitte,
206 
Soll sich an den Menschen reihn,
207 
Und allein durch seine Sitte
208 
Kann er frei und mächtig seyn.
 
209 
Windet zum Kranze die goldenen Aehren,
210 
Flechtet auch blaue Cyanen hinein,
211 
Freude soll jedes Auge verklären,
212 
Denn die Königin ziehet ein,
213 
Die uns die süße Heimat gegeben,
214 
Die den Menschen zum Menschen gesellt,
215 
Unser Gesang soll sie festlich erheben,
216 
Die beglückende Mutter der Welt.

Details zum Gedicht „Bürgerlied“

Anzahl Strophen
32
Anzahl Verse
216
Anzahl Wörter
1054
Entstehungsjahr
1798
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Bürgerlied“ wurde von Friedrich Schiller verfasst, einem der bedeutendsten Dichter der deutschen Klassik, der von 1759 bis 1805 lebte. Demnach ist das Gedicht zeitlich in das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert einzuordnen.

Schon beim ersten Lesen fällt der hohe Grad an Symbolik und Allegorik auf. Das lyrische Ich erschafft eine Welt, in der die Götter und Menschen in einem Prozess der Zivilisation vereint sind. Die komplexen Strophenreihen folgen einem dramatischen und epischen Aufbau, eine Qualität, die für Schillers Arbeiten typisch ist.

Inhaltlich geht es in dem Gedicht vornehmlich um die Entwicklung der Menschheit aus einem zivilisationslosen Zustand bis hin zu einer Gemeinschaft von Bürgern, die mit sinnvoller Arbeit und kultivierten Sitten das menschliche Leben bereichern.

Dieser Prozess wird durch Schillers Behandlung der mythologischen Figur der Ceres symbolisiert, die in dem Gedicht als „Bezähmerin wilder Sitten“ erscheint, die „den Menschen zum Menschen gesellt“. Das Gedicht ist also eine Allegorie auf die Entstehung von Zivilisation und Gesellschaft aus einem ehemals chaotischen und rohen Zustand.

Das Gedicht besticht durch seine komplexen Strukturen und sein reiches, bildhaftes Vokabular. Schillers Verwendung von Volkslied- und Balladenform prägt die rhetorischen Strukturen des Gedichts und trägt zu dem lebhaften, dramatischen Ton bei.

Insgesamt ist das „Bürgerlied“ ein typisches Beispiel für Friedrich Schillers dichterische Großzügigkeit und sein Bemühen, durch Dichtung Bedeutung zu schaffen und gesellschaftliche Entwicklungen darzustellen. Es ist ein eindrucksvolles Bild des zivilisatorischen Denkens der Aufklärung und der Rolle des Menschen in diesem Prozess. Dabei ist es besonders bemerkenswert in seiner Verwendung von Symbolik und Allegorie, um abstrakte Ideen in lebendige und dramatische Bilder zu übersetzen.

Weitere Informationen

Friedrich Schiller ist der Autor des Gedichtes „Bürgerlied“. Schiller wurde im Jahr 1759 in Marbach am Neckar, Württemberg geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1798. Der Erscheinungsort ist Tübingen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Schiller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Autoren des Sturm und Drang waren zumeist Schriftsteller jüngeren Alters, häufig unter 30 Jahre alt. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik war geprägt durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Sowohl Klassik als auch Weimarer Klassik sind gebräuchliche Bezeichnungen für die Literaturepoche. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die wichtigsten Themen. Die Weimarer Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. In der Weimarer Klassik wird eine sehr einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Kurze, allgemeingültige Aussagen (Sentenzen) sind oftmals in Werken der Weimarer Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, setzte man großen Wert auf Stabilität und formale Ordnung. Metrische Ausnahmen befinden sich immer wieder an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Goethe, Schiller, Herder und Wieland können als die Hauptvertreter der Weimarer Klassik bezeichnet werden. Aber nur Schiller und Goethe inspirierten und motivierten einander durch eine enge Zusammenarbeit und gegenseitige Kritik.

Das vorliegende Gedicht umfasst 1054 Wörter. Es baut sich aus 32 Strophen auf und besteht aus 216 Versen. Weitere Werke des Dichters Friedrich Schiller sind „An Minna“, „An den Frühling“ und „An die Gesetzgeber“. Zum Autor des Gedichtes „Bürgerlied“ haben wir auf abi-pur.de weitere 220 Gedichte veröffentlicht.

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