Auf einen grünen Zweig von Clemens Brentano

Zur Fremde zog ein frommer Knabe
An Gold so arm, wie Gold so treu,
Er sang ein Lied um milde Gabe,
Sein Lied war alt, die Welt war neu.
 
Wie Freiheit singt in Liebesbanden,
So stieg das Lied aus seiner Brust;
Die Welt hat nicht sein Lied verstanden,
Er sang mit Schmerzen von der Lust.
 
Das Leben leichter zu erringen,
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Tut er der eignen Lust Gewalt;
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Will nimmer spielen, nimmer singen,
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Geht Kräuter suchen in den Wald.
 
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Die Füße muß er wund sich laufen
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Zum heißen Fels, zum kühlen Bach,
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Und muß um wenig Brot verkaufen,
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Die Blume, deren Dorn ihn stach.
 
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Und wie er durch die Wälder irret,
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Ein seltsam Tönen zu ihm drang;
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Durch wildes Singen rasselnd schwirret,
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Ein schmerzlicher metallner Klang.
 
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Der Knabe teilt die wilden Hecken,
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Und vor ihm steht ein gift'ger Baum;
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Die Zweige dürr hinaus sich strecken,
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Mit Blech geziert und goldnem Schaum.
 
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Und viel gemeine Vögel kreisen,
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Rings um des Baumes schneidend Laub;
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Und die von seinen Früchten speisen,
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Sie sind des goldnen Giftes Raub.
 
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Da rührt der Knabe seine Laute,
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Er singt ein schmerzlich wildes Lied;
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Und in dem Baum, zu dem er schaute,
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Er einen bunten Vogel sieht.
 
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Er sitzt betrübt, die bunten Schwingen
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Senkt an der Silberbrust er hin,
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Und kann nicht fliegen, kann nicht singen
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Des Baumes Gifte fesseln ihn.
 
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Dem Knaben regt sich's tief im Herzen,
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Das Vöglein zieht ihn mächtig an,
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Und seines Liedes kind'sche Schmerzen
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Hört gern das kranke Vöglein an.
 
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Und weil im Wind die Blätter klingen,
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So kann es nicht das Lied verstehn;
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Doch er hört nimmer auf zu singen,
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Bleibt treu vor seiner Liebe stehn.
 
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Und singt ihm vor zu tausendmalen
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Von Liebeslust und Frühlingslust,
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Von grünen Bergen, milden Talen
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Und Ruhe an geliebter Brust.
 
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Schon regt das Vöglein seine Schwingen,
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Schaut freundlich zu dem Knaben hin;
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Des Arme um den Baum sich schlingen,
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Die Liebe machet mutig ihn.
 
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Er klimmet in den gift'gen Zweigen
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Zerreißt mit Lust die Hände sich,
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Das kranke Vöglein zu ersteigen,
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Es spricht: Ach nimmer heilst du mich.
 
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Und sinket stille zu ihm nieder,
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An seinem Herzen hält er's warm;
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Und ordnet sorglich sein Gefieder,
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Und trägt's zur Sonne auf dem Arm.
 
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Steigt auf die Berge, läßt es trinken
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Des blauen Himmels freie Luft,
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Und weiß zu blicken, weiß zu winken,
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Bis er die Freude wieder ruft.
 
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Die Freude kömmt, die bunten Schwingen,
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Sie funkeln Liebesstrahlen gleich;
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Das Vöglein weiß so süß zu singen,
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Es singt den armen Knaben reich.
 
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Wie auch zum Flug die Flüglein streben,
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So bleibt es doch dem Treuen treu;
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In Liebesfesseln will es schweben,
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In Liebesfesseln ist es frei.
 
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Und ich der ich dies Lied dir singe
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Bin wohl dem treuen Knaben gleich,
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Vertrau mir Vöglein, denn ich bringe
76 
Dich noch auf einen grünen Zweig.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.1 KB)

Details zum Gedicht „Auf einen grünen Zweig“

Anzahl Strophen
19
Anzahl Verse
76
Anzahl Wörter
462
Entstehungsjahr
1778 - 1842
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Clemens Brentano, ein bekannter deutscher Lyriker der Romantik. Die Romantik datiert ihre Hochphase auf das 19. Jahrhundert.

Auf den ersten Blick erzählt das Gedicht die märchenhaft anmutende Geschichte eines armen, frommen Jungen, der durch seine Musik alte Ideale zum Ausdruck bringt und damit die harte Realität seiner Welt herausfordert. Für sein Lied bekommt er von der Welt jedoch Unverständnis und statt Freude, nur Schmerz und Anstrengung.

Der Knabe opfert eigenen Lust und Vergnügen, um sich durchs Leben zu kämpfen. Er stößt auf einen giftigen Baum, um den zahlreiche schlichte Vögel kreisen, die durch die Früchte des Baumes vergiftet werden. Der Junge entdeckt einen bunten Vogel an diesem Baum, der durch das Gift des Baumes gefangen ist. Trotz der toxischen Umgebung gelingt es dem Jungen durch sein beharrliches und hoffnungsvolles Singen, das Vöglein zu retten und zu befreien.

Diese märchenhafte Erzählung spiegelt den inneren Konflikt des lyrischen Ichs wider und symbolisiert das Aufbegehren gegen befremdliche und destruktive Strukturen der Gesellschaft oder des Lebens an sich. Die Botschaft liegt wohl darin, dass Treue, Hoffnung und die Macht der Liebe es ermöglichen, Hindernisse zu überwinden und sogar das scheinbar Unerreichbare zu erreichen.

Formal besteht das Gedicht aus 19 Strophen zu je vier Versen, was eine insgesamt gleichmäßige und rhythmische Struktur ergibt, die der Erzählstruktur der Geschichte entspricht. Die Sprache ist bildreich und symbolisch, mit vielen Metaphern und Bezügen zur natürlichen Welt, wie es für die Romantik typisch ist. Der Stil Brentanos ist dabei sehr melodiös und liedhaft, was durch den Einsatz von Reimen, Alliterationen und Assonanzen erreicht wird.

Brentanos Gedicht ist demnach eine sehr bildhafte, symbolische und emotionale Betrachtung der Macht der Liebe und der Musik, eingebettet in einer formal strengen und melodiösen Versform, die für das lyrische Genre der Romantik charakteristisch ist.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Auf einen grünen Zweig“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Clemens Brentano. Brentano wurde im Jahr 1778 in Ehrenbreitstein (Koblenz) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1794 bis 1842 entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Romantik zuordnen. Der Schriftsteller Brentano ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine Epoche der Kunstgeschichte, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Literatur, Musik, Kunst und Philosophie prägte. Auf die Literatur beschränkt betrachtet reichen die Auswirkungen der Epoche lediglich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hinein. Die Romantik kann in drei Phasen aufgegliedert werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Die Literaturepoche der Romantik entstand in Folge politischer Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche. Im gesamten Europa fand ein Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft statt. Gleichermaßen bildete sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein heraus. Technologischer Fortschritt und Industrialisierung sind prägend für diese Zeit. Bedeutende Motive in der Lyrik der Romantik sind die Ferne und Sehnsucht sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit. Weitere Motive sind das Fernweh, das Nachtmotiv oder die Todessehnsucht. So symbolisierte die Nacht nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das Geheimnisvolle, Mysteriöse und galt als Ursprung der Liebe. Merkmale der Romantik sind die Hinwendung zur Natur, die Weltflucht oder der Rückzug in Traumwelten. Insbesondere ist aber auch die Idealisierung des Mittelalters aufzuzeigen. Kunst und Architektur des Mittelalters wurden von den Romantikern wieder geschätzt. Die Romantik stellt die Freiheit der Phantasie sowohl über die Form als auch über den Inhalt des Werkes. Eine Konsequenz daraus ist ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Lyrik und Epik. Die festen Regeln und Ziele der Klassik werden in der Romantik zurückgelassen. Eine gewisse Maß- und Regellosigkeit in den Werken fällt auf.

Das vorliegende Gedicht umfasst 462 Wörter. Es baut sich aus 19 Strophen auf und besteht aus 76 Versen. Weitere Werke des Dichters Clemens Brentano sind „Brautgesang“, „Abschied vom Rhein“ und „O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen“. Zum Autor des Gedichtes „Auf einen grünen Zweig“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 298 Gedichte vor.

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