O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen von Clemens Brentano

O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen,
Blau überspannt vom Zelte, Stern an Stern;
O Wüstenglut voll Tau, o Lieb' voll Tränen,
Weil sich unendlich Nahes ewig fern.
 
O Wüstentraum, wo Lieb' auf Herzschlag lauschet,
Wenn flücht'gen Wildes Huf die Wüste drischt,
O Traum, wo der Geliebten Schleier rauschet,
Wenn Geierflug im Sandmeer Schlangen fischt.
 
O Wüstentraum, wo Liebe träumt zu fassen
10 
Jetzt Josephs Mantelsaum mit durst'ger Hand,
11 
Da geißelt wach, verhöhnt halb, ganz verlassen
12 
Ihr Herz, der Wüste Geißel, glüher Sand.
 
13 
O Liebe, Wüstentraum der Sehnsuchtspalme,
14 
Die blütenlos Gezweig zum Himmel streckt,
15 
Bis segnend in des höchsten Liedes Psalme
16 
Der Engel sie mit heil'gem Fruchtstaub weckt.
 
17 
O Wüste, Traum der Liebe, die verachtet
18 
Vom Haus verstoßen mit der Hagar irrt,
19 
Wo schläft der Quell? da Ismael verschmachtet,
20 
Bis deine Brust ihm eine Amme wird.
 
21 
O Wüstentraum der Liebe, die sich sehnet,
22 
Steigt nie ein Weiherauch aus dir empor?
23 
Geht duftend, auf den Bräutigam gelehnet,
24 
Nie meine Seele heil aus dir hervor?
 
25 
O Wüste, wo das Wort der ew'gen Liebe
26 
Im unversehrten Dorn vor Moses flammt,
27 
Ein Zeugnis, daß die Mutter Jungfrau bliebe,
28 
Aus deren Schoß der Sohn der Gottheit stammt.
 
29 
Lieb', Wüstentraum, so laut des Rufers Stimme,
30 
»Bereit' den Weg des Herrn!« dir mahnend schallt,
31 
Summt in des Löwen Schlund dir doch die Imme,
32 
Die Süßes baut im Rachen der Gewalt.
 
33 
O Durst der Liebe, Wüstentraum, wann spaltet
34 
Der Herr den Fels, daß Wasser gibt der Stein,
35 
Wann deckt in dir den Tisch, der gütig waltet,
36 
Wann sammle ich das Himmelbrot mir ein?
 
37 
Durst, Liebe, Wüstentraum, dort scheint am Hügel
38 
Der Morgenstrahl, ein Hirtenfeuer weiß,
39 
Wo Durst gewählt des Wasserfalles Spiegel
40 
Fand Liebe ein Geschiebe Fraueneis.
 
41 
O Liebe, Wüstentraum des Heimatkranken,
42 
Ihr Paradiese, schimmernd in der Luft,
43 
Ihr Sehnsuchtsströme, die durch Wiesen ranken.
44 
Ihr Palmenhaine, lockend in dem Duft.
 
45 
O Liebe, Wüstentraumquell, beim Erwachen
46 
Rauscht dir kein Quell, es wirbelt glüher Sand,
47 
Es saust das Haus der Schlangen und der Drachen
48 
Und prasselt nieder an der Felsenwand.
 
49 
O Wüstentraum, wo Sehnsucht Feuer trinket,
50 
Und Liebe angehaucht vom gift'gen Smum,
51 
Ohn' Trost und Hoffnung tot zur Erde sinket;
52 
O Tod ohn' Liebe, Hoffnung, Ehr' und Ruhm!
53 
O Wüstentraum der Lieb'! in der Oase
54 
Labt dich am Quell, der zwischen Palmen glänzt,
55 
Ein schlankes Kind - die Schlange ist's im Grase,
56 
Der Räuber Kundschaftrin, ein Truggespenst.
 
57 
O Liebe, Wüstentraum, nach kurzem Gasten
58 
Sprengt dich der Räuber gastfrei an mit Hohn:
59 
»Mein Brüderchen! entlaste dich zum Fasten,
60 
Wo denkest du hinaus, mein lieber Sohn?«
 
61 
O Liebe, Wüstentraum, du mußt verbluten,
62 
Beraubt, verwundet, trifft der Sonne Stich,
63 
Der Wüste Speer dich, und in Sandesgluten
64 
Begräbt der Wind dich, und Gott findet dich!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.1 KB)

Details zum Gedicht „O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen“

Anzahl Strophen
15
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
439
Entstehungsjahr
1778 - 1842
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht stammt von Clemens Brentano, einem der bekanntesten Vertreter der Heidelberger Romantik, die von etwa 1800 bis 1830 stattfand. Das Gedicht, wie viele aus der Epoche der Romantik, ist voller Gefühle, Sehnsucht und naturbasierten Bildern, und es verbindet persönliches Innenleben mit mystischen und historischen Kontexten.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht intensiv und emotionsgeladen, voller Bilder der Wüste und der Liebe, die Begeisterung und Verzweiflung, Nähe und Ferne, Hoffnung und Todesangst vereinen.

Inhaltlich handelt das Gedicht vom ewigen Streben nach Liebe trotz aller Widrigkeiten und Schwierigkeiten. Das lyrische Ich verwendet das Bild der Wüste als Metapher für die harte, oft entmutigende Realität, während die Liebe als hoffnungsvolles Streben und Quelle der Sehnsucht dargestellt wird. Die unerreichbare Nähe und die ewige Ferne werden immer wieder thematisiert. Dem lyrischen Ich scheint die Liebe zum Greifen nah, doch sie bleibt unerreichbar. Es gibt Anklänge an biblische Geschichten und Figuren, die liebe und Leiden, Aufopferung und Erlösung repräsentieren.

Vom sprachlichen und formalen Aspekt handelt es sich um ein relativ langes, elegisch anmutendes Gedicht mit vielen Strophen und Versen, die ein einheitliches Reimschema aufweisen. Was sich abzeichnet, ist eine Emotionsskala, die von der erhabenen Freude bis zur tiefen Verzweiflung reicht. Es gibt zahlreiche Metaphern, vor allem die der Wüste und der Liebe, die immer wieder variiert und neu interpretiert werden. Das Gedicht ist sprachlich anspruchsvoll und benötigt eine eingehende Lektüre.

Zusammenfassend kann man sagen, dass dieses Gedicht ein tiefes Sehnen nach Liebe trotz der harten Realität (dargestellt durch die Wüste) zum Ausdruck bringt und dabei eine reiche Bildsprache und biblische Anspielungen verwendet, wie typisch für die Romantikepoche, in der starke Gefühlsregungen und die Hinwendung zu Mystik und Religion eine entscheidende Rolle spielten.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen“ des Autors Clemens Brentano. Brentano wurde im Jahr 1778 in Ehrenbreitstein (Koblenz) geboren. Zwischen den Jahren 1794 und 1842 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Romantik zuordnen. Bei dem Schriftsteller Brentano handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine kulturgeschichtliche Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte und sich insbesondere auf den Gebieten der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik äußerte. Auch die Gebiete Geschichte, Philosophie und Theologie sowie Naturwissenschaften und Medizin waren von ihren Auswirkungen betroffen. Bis in das Jahr 1804 hinein spricht man in der Literatur von der Frühromantik, bis 1815 von der Hochromantik und bis 1848 von der Spätromantik. Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts galt im Allgemeinen als wissenschaftlich und aufstrebend, was hier vor allem durch die einsetzende Industrialisierung deutlich wird. Die damalige Gesellschaft wurde zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher. Diese Entwicklung war den Romantikern zuwider. Sie stellten sich in ihren Schriften gegen das Streben nach immer mehr Gewinn, Fortschritt und das Nützlichkeitsdenken, das versuchte, alles zu verwerten. Wesentliche Motive in der Lyrik der Romantik sind die Ferne und Sehnsucht sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit. Weitere Motive sind das Fernweh, die Todessehnsucht oder das Nachtmotiv. So symbolisierte die Nacht nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das Geheimnisvolle, Mysteriöse und galt als Ursprung der Liebe. Merkmale der Romantik sind die Hinwendung zur Natur, die Weltflucht oder der Rückzug in Traumwelten. Insbesondere ist aber auch die Idealisierung des Mittelalters aufzuzeigen. Architektur und Kunst des Mittelalters wurden von den Vertretern der Romantik wieder geschätzt. Die äußere Form von romantischer Dichtung ist dabei völlig offen. Kein starres Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits direkt nach Erscheinen wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.

Das vorliegende Gedicht umfasst 439 Wörter. Es baut sich aus 15 Strophen auf und besteht aus 64 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Clemens Brentano sind „Ihr himmlischen Fernen“, „Brautgesang“ und „Abschied vom Rhein“. Zum Autor des Gedichtes „O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 298 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Clemens Brentano

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Clemens Brentano und seinem Gedicht „O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Clemens Brentano (Infos zum Autor)

Zum Autor Clemens Brentano sind auf abi-pur.de 298 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.