Briefmarken von Kurt Tucholsky

Germania, die was auf den bunten Marken
der Reichspost prangt, hat längst die Nase voll.
Sie ist ein Weib. Wir brauchen einen starken
und kräftigen Mann, der künftig prangen soll.
So leg ich denn den Finger an die Nase
und denke nach: Wer ist der Ehre wert?
Herr Chamberlain? Herr Oldenburg? Herr Haase?
auf einem Hoppe-Hoppe-Reiter-Pferd?
 
Doch nehmen wir die Götter aus den Tempeln
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– zum Beispiel Herrn von Heydebrands Gesicht –,
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dann traut sich der Beamte nicht zu stempeln;
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so geht das also nicht.
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Dieweil man aber jene kleinen Blättchen
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mit zähem, weichem Klebestoff bestrich:
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wie wäre es, samt seinen Ordenskettchen,
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mit Helfferich?
 
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Doch einer noch. Alldeutschlands Schafe bähen,
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der Schaefer vorneweg: „Ein Bismarck fehlt!“
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Wer weiß, wenn sie ihn heut regieren sähen …
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Nun gut. Wenn den die Reichspost wählt?
 
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Der Kopf spricht. Horch! Wie sich die Brauen heben!
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– „Ihr könnt mich alle auf die Briefe kleben!“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.5 KB)

Details zum Gedicht „Briefmarken“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
22
Anzahl Wörter
146
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Briefmarken“ stammt von Kurt Tucholsky, einem der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Journalisten in der Weimarer Republik. Das Gedicht kann somit der literarischen Epoche der Moderne zugeordnet werden, genauer der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts.

Auf den ersten Blick geht es in dem Gedicht um das Motiv der Briefmarken und wer darauf abgebildet wird, wobei hier die Figur Germania genannt wird, die zu dieser Zeit auf vielen deutschen Briefmarken zu sehen war. Doch das Gedicht geht über dieses erste Thema hinaus und scheint sich durch seine Anspielungen und metaphorischen Verweise mit der politischen und gesellschaftlichen Situation Deutschlands in Tucholskys Zeit auseinanderzusetzen.

Von der Nase voll haben, einen Ehrenwert suchen, einen starken Mann fordern - all dies lässt auf die Unzufriedenheit und die Suche nach einem Vorbild oder Führer schließen, die in Teilen der Bevölkerung spürbar war. Dabei wird die politische Kritik auf eine Weise verpackt, die sich am Alltäglichen orientiert. Briefmarken stehen hier für die Massen, die oft unpolitisch sind, aber dennoch stark durch die Politik beeinflusst werden.

Was die Form des Gedichts betrifft, ist sie recht ungewöhnlich. Es gibt keine regelmäßigen Strophen, was auf die Unregelmäßigkeit und sicherlich auch die Unsicherheit der Zeit hinweisen könnte, zugleich aber auch auf die Freiheit und Diversität in der Lyrik, die typisch für die Moderne ist.

Die Sprache des Gedichts ist sehr klar und direkt, teilweise fast umgangssprachlich. Tucholsky bedient sich jedoch auch zahlreicher Metaphern und Anspielungen, zum Beispiel auf bekannte Personen jener Zeit. Damit schafft er es, das Gedicht für ein breites Publikum verständlich zu machen und gleichzeitig seine politische Kritik auszudrücken. Seine Auswahl der Personen drückt die Ironie und satirische Kritik aus, nach der Tucholsky bekannt ist.

Insgesamt scheint „Briefmarken“ ein politisches Gedicht zu sein, das auf feinsinnige Weise die gesellschaftliche und politische Situation zur Zeit der Weimarer Republik kritisiert und dabei auf den Alltag der Menschen Bezug nimmt. Es wirft Fragen auf nach den dargestellten Vorbildern einer Gesellschaft und der Verantwortung, die mit der Präsentation dieser Vorbilder einhergeht. Und es zeigt, dass auch in den kleinsten Dingen des Alltags, wie Briefmarken, politische Botschaften zu finden sind.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Briefmarken“ ist Kurt Tucholsky. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. 1919 ist das Gedicht entstanden. Charlottenburg ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen geschichtlichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik hatten der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den ihr zugerechneten Werken ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionslos-nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Erotik, Technik und Weltwirtschaftskrise deutlich erkennbar. Dies kann man als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Man schrieb ein Minimum an Sprache, dafür hatte diese ein Maximum an Bedeutung. Es sollten so viele Menschen wie möglich mit den Texten erreicht werden, deshalb wurde eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache verwendet. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Schriftsteller, die ins Exil gehen, also ihr Heimatland verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland sind typisch für diese Literaturepoche. Anders als andere Literaturepochen, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten zu erwähnen. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das 146 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 22 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Kurt Tucholsky sind „An Peter Panter“, „An das Publikum“ und „An die Meinige“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Briefmarken“ weitere 136 Gedichte vor.

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