Blindschl von Joachim Ringelnatz
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Ich hatte einmal eine Liebschaft mit |
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Einer Blindschleiche angefangen; |
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Wir sind ein Stück Leben zusammen gegangen |
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Im ungleichen Schritt und Tritt. |
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Die Sache war ziemlich sentimental. |
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In einem feudalen Thüringer Tal |
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Fand ich – nein glaubte zu finden – einmal |
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Den ledernen Handgriff einer |
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Damenhandtasche. Es war aber keiner. |
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Ich nannte sie „Blindschl“. Sie nannte mich |
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Nach wenigen Tagen schon „Eierich“ |
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Und dann, denn sie war sehr gelehrig, |
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Verständlicher abgekürzt „Erich“. |
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Allmittags haben gemeinsam wir |
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Am gleichen Tische gegessen, |
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Sie Regenwürmer mit zwei Tropfen Bier, |
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Ich totere Delikatessen. |
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Sie opferte mir ihren zierlichen Schwanz. |
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Ich lehrte sie überwinden |
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Und Knoten schlagen und Spitzentanz, |
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Schluckdegen und Selbstbinder binden. |
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Sie war so appetitlich und nett. |
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Sie schlief Nacht über in meinem Bett |
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Als wie ein kühlender Schmuckreif am Hals, |
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Metallisch und doch so schön weichlich. |
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Und wenn ihr wirklich was schlimmstenfalls |
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Passierte, so war es nie reichlich. |
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Kein Sexuelles und keine Dressur. |
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Ich war ihr ein Freund und ein Lehrer, |
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Was keiner von meinen Bekannten erfuhr; |
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Wer mich besuchte, der sah sie nur |
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Auf meinem Schreibtisch steif neben der Uhr |
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Als bronzenen Briefbeschwerer. |
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Und Jahre vergingen. Dann schlief ich einmal |
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Mit Blindschl und träumte im Betti |
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(Jetzt werde ich wieder sentimental) |
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Gerade, ich äße Spaghetti. |
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Da kam es, daß irgendwas aus mir pfiff. |
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Mag sein, daß es fürchterlich krachte. |
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Fest steht, daß Blindschl erwachte |
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Und – sie, die sonst niemals nachts muckte – |
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Wild züngelte, daß ich nach ihr griff |
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Und sie, noch träumend, verschluckte. |
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Es gleich zu sagen: Sie ging nicht tot. |
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Sie ist mir wieder entwichen, |
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Ist in die Wälder geschlichen |
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Und sucht dort einsam ihr tägliches Brot. |
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Vorbei! Es wäre – ich bin doch nicht blind – |
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Vergebens, ihr nachzuschleichen. |
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Weil ihre Wege zu dunkel sind. |
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Weil wir einander nicht gleichen. |
Details zum Gedicht „Blindschl“
Joachim Ringelnatz
11
51
286
1928
Moderne,
Expressionismus
Gedicht-Analyse
Das hier interpretierte Gedicht „Blindschl“ stammt von dem deutschen Autor und Maler Joachim Ringelnatz. Ringelnatz lebte von 1883 bis 1934, kann also zeitlich der literarischen Epoche des Expressionismus zugerechnet werden.
Beim ersten Lesen fällt auf, dass dieses Gedicht sehr fantasievoll und teilweise absurd wirkt. Das lyrische Ich beschreibt eine quasi-romantische Beziehung zu einer Blindschleiche, was durchaus als metaphorisch und humoristisch betrachtet werden kann.
Inhaltlich befasst sich das Gedicht mit der ungewöhnlichen Liebschaft des lyrischen Ichs zur Blindschleiche „Blindschl“. Das Paar führt ein alltägliches Leben, indem sie gemeinsam essen und sich gegenseitig lehren und unterstützen. Die Beziehung scheint tief zu sein, da das lyrische Ich sogar von „Blindschl“ träumt. Doch eines Nachts verschluckt das Ich versehentlich „Blindschl“. Obwohl sie überlebt und in die Wälder zurückkehrt, kann die Beziehung nicht fortgesetzt werden, da ihre Art zu leben zu unterschiedlich ist.
Die Metapher der Beziehung zwischen Mensch und Tier könnte eine Vielzahl von Bedeutungen haben. Es könnte als Kommentar zur Beziehung zwischen Mensch und Natur gesehen werden oder als Hinweis auf die Schwierigkeiten, die auftreten können, wenn zwei völlig verschiedene Wesen versuchen, in Harmonie zu leben. Vielleicht will der Dichter auch zeigen, dass in einer Gesellschaft, die dazu neigt, Menschen in bestimmte Normen zu zwingen, einzigartige und individuelle Beziehungen oft als absurd und unverständlich angesehen werden.
Formal besteht das Gedicht aus elf Strophen mit einer variierenden Anzahl von Versen. Dies verleiht dem Gedicht einen freien, fast erzählerischen Charakter, der gut zu der untypischen und humorvollen Handlung passt. Die Sprache des Gedichts ist relativ einfach und zugänglich, was es dem Leser ermöglicht, sich auf die surrealen und ungewöhnlichen Aspekte der Handlung zu konzentrieren. Vereinzelte Satzzeichen erlauben Pausen und betonen bestimmte Aussagen, ohne den Lesefluss zu stören. Abschließend hat „Blindschl“ durch die besondere Thematik und die humorvolle Darstellung eine ganz eigene, fesselnde Dynamik und hinterlässt einen bleibenden Eindruck.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Blindschl“ des Autors Joachim Ringelnatz. 1883 wurde Ringelnatz in Wurzen geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1928 entstanden. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Moderne oder Expressionismus zu. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 51 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 286 Worte. Weitere Werke des Dichters Joachim Ringelnatz sind „Abgesehen von der Profitlüge“, „Abglanz“ und „Abschied von Renée“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Blindschl“ weitere 560 Gedichte vor.
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Zum Autor Joachim Ringelnatz sind auf abi-pur.de 560 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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