An die Entfernte von Joseph von Eichendorff

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Denk ich, du Stille, an dein ruhig Walten,
An jenes letzten Abends rote Kühle,
Wo ich die teure Hand noch durfte halten:
Steh ich oft sinnend stille im Gewühle,
Und, wie den Schweizer heim'sche Alphornslieder
Auf fremden Bergen, fern den Freunden allen,
Oft unverhofft befallen,
Kommt tiefe Sehnsucht plötzlich auf mich nieder.
 
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Ich hab es oft in deiner Brust gelesen:
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Nie hast du recht mich in mir selbst gefunden,
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Fremd blieb, zu keck und treibend dir mein Wesen,
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Und so bin ich im Strome dir verschwunden.
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O nenn drum nicht die schöne Jugend wilde,
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Die mit dem Leben und mit seinen Schmerzen
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Mag unbekümmert scherzen,
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Weil sie die Brust reich fühlt und ernst und milde!
 
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Getrennt ist längst schon unsres Lebens Reise,
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Es trieb mein Herz durch licht' und dunkle Stunden.
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Dem festern Blick erweitern sich die Kreise,
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In Duft ist jenes erste Reich verschwunden
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Doch, wie die Pfade einsam sich verwildern,
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Was ich seitdem, von Lust und Leid bezwungen,
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Geliebt, geirrt, gesungen:
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Ich knie vor dir in all den tausend Bildern.
 
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Als noch Lieb mit mir im Bunde,
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Hatt ich Ruhe keine Stunde;
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Wenn im Schloß noch alle schliefen,
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War's, als ob süß' Stimmen riefen,
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Tönend bis zum Herzensgrunde:
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»Auf! schon goldne Strahlen dringen,
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Heiter funkeln Wald und Garten,
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Neu erquickt die Vögel singen,
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Läßt du so dein Liebchen warten?«
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Und vom Lager mußt ich springen.
 
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Doch kein Licht noch sah ich grauen,
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Draußen durch die nächtlich lauen
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Räume nur die Wolken flogen,
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Daß die Seele, mitgezogen,
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Gern versank im tiefen Schauen
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Unten dann die weite Runde,
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Schlösser glänzend fern erhoben,
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Nachtigallen aus dem Grunde,
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Alles wie im Traum verwoben,
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Miteinander still im Bunde.
 
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Wach blieb ich am Fenster stehen,
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Kühler schon die Lüfte wehen,
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Rot schon rings des Himmels Säume,
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Regten frischer sich die Bäume,
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Stimmen hört ich fernab gehen:
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Und durch Türen, öde Bogen,
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Zürnend, daß die Riegel klungen,
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Bin ich heimlich ausgezogen,
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Bis befreit aufs Roß geschwungen,
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Morgenwinde mich umflogen.
 
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Läßt der Morgen von den Höhen
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Weit die roten Fahnen wehen,
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Widerhall in allen Lüften,
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Losgerissen aus den Klüften
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Silberner die Ströme gehen:
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Spürt der Mann die frischen Geister,
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Draußen auf dem Feld, zu Pferde
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Alle Ängste keck zerreißt er,
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Dampfend unter ihm die Erde,
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Fühlt er hier sich Herr und Meister.
 
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Und so öffnet ich die schwüle
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Brust aufatmend in der Kühle!
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Locken fort aus Stirn und Wange,
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Daß der Strom mich ganz umfange,
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Frei das blaue Meer umspüle,
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Mit den Wolken, eilig fliehend,
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Mit der Ströme lichtem Grüßen
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Die Gedanken fröhlich ziehend,
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Weit voraus vor Wolken, Flüssen
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Ach! ich fühlte, daß ich blühend!
 
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Und im schönen Garten droben,
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Wie aus Träumen erst gehoben,
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Sah ich still mein Mädchen stehen,
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Über Fluß und Wälder gehen
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Von der heitern Warte oben
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Ihre Augen licht und helle,
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Wann der Liebste kommen werde.
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Ja! da kam die Sonne schnelle,
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Und weit um die ganze Erde
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War es morgenschön und helle!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31 KB)

Details zum Gedicht „An die Entfernte“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
86
Anzahl Wörter
482
Entstehungsjahr
1788 - 1857
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das hier vorliegende Gedicht ist von Joseph von Eichendorff, einem der bedeutendsten Lyriker der deutschen Romantik. Seine Produktionsphase liegt größtenteils in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht melancholisch und reflektierend. Es hat den Anschein, als schweife das lyrische Ich in Gedanken ab, denkt an vergangene Begegnungen und Erlebnisse und eine entfernte oder verschwundene Geliebte.

Inhaltlich lässt sich dieses Gedicht folgendermaßen zusammenfassen: Das lyrische Ich erinnert sich an die vergangene Liebe und scheint einer entfernten oder vergangenen Geliebten nachzutrauern. Es reflektiert über das Ende dieser Beziehung, die Trennung und die daraus resultierende Sehnsucht, aber auch das eigene zunehmende Verständnis des Lebens und die erlebten Höhen und Tiefen. Das Gedicht endet mit einer idealisierten Erinnerung an das gemeinsame Leben, das mit der aufgehenden Sonne symbolisiert wird.

Formal besteht das Gedicht aus neun Strophen mit unterschiedlicher Anzahl an Versen, hauptsächlich zehn oder elf. Die Sprache von Eichendorff ist bildreich, voller Erinnerungen und Emotionen. Es wird eine romantische, naturverbundene und gleichzeitig innerliche Atmosphäre geschaffen. Eine sorgfältige Analyse würde den Umgang mit Metaphern und anderen rhetorischen Mitteln beleuchten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „An die Entfernte“ ein typisches Beispiel für die lyrische Arbeit von Eichendorff und der Romantik ist: Es zeichnet sich durch seine melancholische und gefühlvolle Sprache, seine Betonung auf individueller Erfahrung und Leidenschaft sowie sein Interesse an der natürlichen Welt aus. Es ist ein Gedicht, das sowohl zu seiner Zeit als auch heute noch ansprechend ist.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „An die Entfernte“ ist Joseph von Eichendorff. Der Autor Joseph von Eichendorff wurde 1788 geboren. Im Zeitraum zwischen 1804 und 1857 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Romantik zuordnen. Bei Eichendorff handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine kulturgeschichtliche Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis spät in das 19. Jahrhundert hineinreichte. Insbesondere auf den Gebieten der Literatur, Musik oder der bildenden Kunst hatte diese Epoche umfangreiche Auswirkungen. Die Romantik kann in drei Phasen aufgegliedert werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Zu großen gesellschaftlichen Umbrüchen führte die Industrialisierung. Die neue Maschinenwelt förderte Verstädterung und Landflucht. Die zuvor empfundene Geborgenheit war für die Lyriker der Romantik in Auflösung begriffen. In der Romantik finden sich unterschiedliche charakteristische Motivkreise. Sehnsucht und Liebe (Blaue Blume) oder das Unheimliche (Spiegelmotiv) sind wichtige zu benennende Motive. Auch politische Motive wie Weltflucht, Nationalismus und Gesellschaftskritik lassen sich aufzeigen. Das Mittelalter gilt bei den Romantikern als Ideal und wird verherrlicht. Übel und Missstände des Mittelalters bleiben jedoch unbeachtet. Strebte die Klassik nach harmonischer Vollendung und gedanklicher Klarheit, so ist die Romantik von einer an den Barock erinnernden Maß- und Regellosigkeit geprägt. Die Romantik begreift die schöpferische Phantasie des Künstlers als unendlich. Dabei baut sie zwar auf die Errungenschaften der Klassik auf. Deren Ziele und Regeln möchte sie aber hinter sich lassen.

Das vorliegende Gedicht umfasst 482 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 86 Versen. Weitere Werke des Dichters Joseph von Eichendorff sind „In Danzig“, „Kurze Fahrt“ und „Lied“. Zum Autor des Gedichtes „An die Entfernte“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 395 Gedichte vor.

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Das Video mit dem Titel „An die Entfernte (I.) von Joseph Freiherr von Eichendorff, vom Wortmann rezitiert“ wurde auf YouTube veröffentlicht. Unter Umständen sind 2 Klicks auf den Play-Button erforderlich um das Video zu starten.

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