Berliner Kämpfe von Kurt Tucholsky

Revolution? Aber kein Gedanke!
Es brodelt im Hexenkessel der Panke,
es hupen die Autos, es knattern die Flinten,
Demonstrationen vorne und hinten –
Tun sie auch so wie die Menschenfresser:
die Panke war stets ein stilles Gewässer.
 
Jahrelang – bängliches Zögern und Drehen.
Jahrelang – wir werden ja sehen!
Jahrelang – Krupp und Tirpitz sollen leben!
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Jahrelang – rin in die Schützengräben!
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Jahrelang – Reklamiertenschiß.
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Kompromiß … und Kompromiß …
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Jahrelang – Ausverkäufe an Sieg …
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Sozialisierung? Krieg ist Krieg.
 
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Und nun ist auf einmal Friede auf Erden.
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Und nun soll das alles anders werden.
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Wir hassen den bauchigen Kassenschrein.
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Wir wollen alle glücklich sein!
 
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Man kann sich über das Tempo zanken,
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Nicht so bei uns an der blauen Panken.
 
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Wenn die Regierung einen wie Liebknecht hätt!
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Die Regierung aber sitzt auf dem Klosett
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und berät wie früher in der Reichskanzlei,
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was nunmehr und ob es zu tun sei.
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Es erinnert an schlechteste alte Zeiten:
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das Gesellschaftsspiel der Verantwortlichkeiten,
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der deutsche Streit um die Kompetenz –
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der alte politische Zirkus Renz.
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Unterdessen schwillt der Spartakus
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zur Macht empor, weil er will und muß.
 
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Und der Bürger? Du liebe Güte!
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Es wackeln im Wind die Zylinderhüte.
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Er ist gegen jede Volksempörung.
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Politik ist geschäftliche Störung.
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Spartakus will seine Kasse bedrohn?
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Das geht zu weit mit der Revolution.
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Und wenn der Bürger noch zuschlagen wollte!
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Es schläft Tante Minchen, es schläft Onkel Nolte …
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Spartakus packt die Geschichte beim Schopf.
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Der Bürger wackelt empört mit dem Kopf.
 
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Und so stehn wir am Anfang und stehn am Ende.
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Deutsches Blut floß über deutsche Hände.
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„Lumpen! Deserteure! Proleten!“
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So kann man dem Ding nicht entgegentreten.
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Ist Ruhe die erste Bürgerpflicht,
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die von Empörern ist es nicht.
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Gewalt gegen Gewalt, Kraft gegen Kraft:
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das ist die alte Wissenschaft.
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Weißt du, Deutscher, wie die neue heißt?
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Gegen Gewalt den Geist!
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Nur der Geist kann die Streitaxt begraben!
 
52 
Aber freilich: man muß einen haben.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.7 KB)

Details zum Gedicht „Berliner Kämpfe“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
305
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Berliner Kämpfe“ stammt von dem deutschen Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890-1935), der vor allem in der Weimarer Republik zu den bedeutendsten Journalisten zählte. Tucholsky war bekannt für seine kritische, satirische und politische Lyrik und Prosa. Vermutlich fällt das Gedicht „Berliner Kämpfe“ in die Zeit des politischen Umbruchs und der wirtschaftlichen Krise in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, da es auf den Werken von Spartakusbund und der Novemberrevolution Bezug nimmt.

Auf den ersten Blick beschreibt das Gedicht die sozialen und politischen Unruhen in Berlin, den Aufstieg der Spartakusbewegung und die Widerstände der Bürgerschaft dagegen. Im Mittelpunkt steht die Schilderung der gesellschaftlichen Atmosphäre und der sozio-politischen Veränderungen jener Zeit.

Das Gedicht beginnt mit der Darstellung Berlins in Unruhen und Demonstrationen (Vers 1 - Vers 6). Anschließend schildert Tucholsky die jahrelange Benachteiligung der Berliner Bevölkerung durch die herrschenden Eliten (Vers 7 - Vers 14). Die Strophen drei und vier sind als Wunsch nach Veränderung und Verbesserung der Lebensbedingungen zu verstehen (Vers 15 - Vers 20). In den folgenden Versen (Vers 21 - Vers 30) kritisiert Tucholsky die Unfähigkeit der Regierung, die angespannte soziale Situation zu verbessern, sowie ihre Beratungen, die an „schlechteste alte Zeiten“ erinnern. In den Strophen sechs und sieben (Vers 31 - Vers 51) zeichnet Tucholsky ein Bild der Bürgerschaft, die über die Situation beunruhigt ist, das Aufkommen des Spartakusbundes ablehnt und nach Ruhe und Ordnung strebt. In der letzten Strophe (Vers 52) hinterlässt Tucholsky eine kritische und ironische Bemerkung über die geistige Unzureichendheit der Bürger.

Formal besteht das Gedicht aus acht Strophen mit unterschiedlicher Anzahl von Versen, ohne einzelne Reimschemen oder ein regelmäßiges Metrum, was der politischen Satire und den ausdrucksstarken, komischen Effekten der Verse dient. Die Sprache ist direkt und umgangssprachlich, was den kritischen und satirischen Charakter des Gedichts unterstreicht.

Zusammenfassend ist das Gedicht „Berliner Kämpfe“ eine bissige politische Satire, die die sozialpolitischen Konflikte und die politische Atmosphäre in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg beleuchtet. Es enthüllt Tucholskys kritische Sicht auf die politischen Zustände und gesellschaftlichen Diskrepanzen seiner Zeit und seine Abneigung gegen politische Passivität und mangelnden Mut zur notwendigen Veränderung.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Berliner Kämpfe“ ist Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1919 zurück. Erscheinungsort des Textes ist Charlottenburg. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Bei Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Republik hatten erheblichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Zeit ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionsloser und nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Es ist als Reaktion auf den literarischen Expressionismus zu werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich dabei an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache zu verwenden. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Schriftsteller, die ins Exil fliehen, also ihre Heimat verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die Exilliteratur bildet eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den thematischen Schwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Expressionismus, Realismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das vorliegende Gedicht umfasst 305 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 52 Versen. Der Dichter Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „An Lukianos“, „An Peter Panter“ und „An das Publikum“. Zum Autor des Gedichtes „Berliner Kämpfe“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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