Das ist der alte Märchenwald! von Heinrich Heine
1 |
Das ist der alte Märchenwald! |
2 |
Es duftet die Lindenblüte! |
3 |
Der wunderbare Morgenglanz |
4 |
Bezaubert mein Gemüte. |
|
|
5 |
Ich ging fürbaß, und wie ich ging, |
6 |
Erklang es in der Höhe. |
7 |
Das ist die Nachtigall, sie singt |
8 |
Von Lieb' und Liebeswehe. |
|
|
9 |
Sie singt von Lieb' und Liebesweh, |
10 |
Von Tränen und von Lachen, |
11 |
Sie jubelt so traurig, sie schluchzet so froh, |
12 |
Vergessene Träume erwachen. |
|
|
13 |
Ich ging fürbaß, und wie ich ging, |
14 |
Da sah ich vor mir liegen |
15 |
Auf freiem Platz ein großes Schloß, |
16 |
Die Giebel hoch aufstiegen. |
|
|
17 |
Verschlossene Fenster, überall |
18 |
Ein Schweigen und ein Trauern; |
19 |
Es schien, als wohne der stille Tod |
20 |
In diesen öden Mauern. |
|
|
21 |
Dort vor dem Tor lag eine Sphinx, |
22 |
Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten, |
23 |
Der Leib und die Tatzen wie ein Löw', |
24 |
Ein Weib an Haupt und Brüsten. |
|
|
25 |
Ein schönes Weib! Der weiße Blick, |
26 |
Er sprach von wildem Begehren; |
27 |
Die stummen Lippen wölbten sich |
28 |
Und lächelten stilles Gewähren. |
|
|
29 |
Die Nachtigall, sie sang so süß |
30 |
Ich konnt nicht widerstehen |
31 |
Und als ich küßte das holde Gesicht, |
32 |
Da war's um mich geschehen. |
|
|
33 |
Lebendig ward das Marmorbild, |
34 |
Der Stein begann zu ächzen |
35 |
Sie trank meiner Küsse lodernde |
36 |
Glut Mit Dürsten und mit Lechzen. |
|
|
37 |
Sie trank mir fast den Odem aus |
38 |
Und endlich, wollustheischend, |
39 |
Umschlang sie mich, meinen armen Leib |
40 |
Mit den Löwentatzen zerfleischend. |
|
|
41 |
Entzückende Marter und wonniges Weh! |
42 |
Der Schmerz wie die Lust unermeßlich! |
43 |
Derweilen des Mundes Kuß mich beglückt, |
44 |
Verwunden die Tatzen mich gräßlich. |
|
|
45 |
Die Nachtigall sang: »O schöne Sphinx! |
46 |
O Liebe! was soll es bedeuten, |
47 |
Daß du vermischest mit Todesqual |
48 |
All deine Seligkeiten? |
|
|
49 |
O schöne Sphinx! O löse mir |
50 |
Das Rätsel, das wunderbare! |
51 |
Ich hab darüber nachgedacht |
52 |
Schon manche tausend Jahre.« |
Details zum Gedicht „Das ist der alte Märchenwald!“
Heinrich Heine
13
52
270
1797 - 1856
Junges Deutschland & Vormärz
Gedicht-Analyse
Der Autor des Gedichts ist Heinrich Heine, ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts. Er lebte von 1797 bis 1856, daher kann das Gedicht zeitlich in diesen Zeitraum eingeordnet werden.
Auf den ersten Eindruck vermittelt das Gedicht Bilder von Natur - einem Wald und einer Nachtigall - und von geheimnisvollen, fast mystischen Begegnungen. Es verströmt eine Atmosphäre der Romantik und der Sehnsucht, lässt aber auch Schmerz und Todesbilder erkennen.
Inhaltlich beschreibt das lyrische Ich einen Spaziergang durch den „alten Märchenwald“, in dem es von der Schönheit und dem Zauber der Natur gefangen ist. Auf seinem Weg hört es das Lied der Nachtigall, das von Liebe und Leid erzählt, und stößt schließlich auf ein geheimnisvolles, verschlossenes Schloss. Vor diesem Schloss liegt eine Sphinx, die halb Frau, halb Löwe ist und eine starke erotische Anziehung auf das lyrische Ich ausübt. Nach einem Kuss erwacht die Sphinx zum Leben und es kommt zu einer heftigen, schmerzvollen und leidenschaftlichen Begegnung. Am Ende stellt das lyrische Ich eine Frage an die Sphinx, die eine existenzielle Unsicherheit und eine Sehnsucht nach Erkenntnis und Verständnis offenbart.
Das lyrische Ich will ausdrücken, dass Liebe oft Vergnügen und Schmerz zugleich bedeutet und dass sie manchmal beängstigende und mysteriöse Aspekte hat.
Formal besteht das Gedicht aus 13 Strophen, die jeweils aus 4 Versen bestehen. Die Sprache ist recht schlicht und verständlich, jedochteilweise auch bildreich und metaphernreich, was zu den surrealen, märchenhaften Bildern des Gedichts beiträgt.
Heine verwendet starke, sinnliche Bilder und Metaphern, die die Spannung und den Kontrast zwischen Schönheit und Schrecken, Lust und Schmerz betonen. Darüber hinaus nutzt er mythologische Referenzen – die Gestalt der Sphinx –, um die Rätselhaftigkeit und die Dualität von Liebe und Leid darzustellen.
Insgesamt ist das Gedicht ein Werk der Romantik, das die tiefen Emotionalitäten und inneren Konflikte dieser Epoche widerspiegelt und in bildhafter Sprache ausdrückt. Es zeigt Liebe als eine gleichzeitig erfüllende und zerrissene Erfahrung und als Rätsel, das gelöst werden will.
Weitere Informationen
Heinrich Heine ist der Autor des Gedichtes „Das ist der alte Märchenwald!“. Der Autor Heinrich Heine wurde 1797 in Düsseldorf geboren. In der Zeit von 1813 bis 1856 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Heine handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 270 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 52 Versen mit insgesamt 13 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Heinrich Heine sind „Ach, die Augen sind es wieder“, „Ach, ich sehne mich nach Thränen“ und „Ach, wenn ich nur der Schemel wär’“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das ist der alte Märchenwald!“ weitere 535 Gedichte vor.
+ Mehr Informationen zum Autor / Gedicht einblenden.
+ Wie analysiere ich ein Gedicht?
Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Heinrich Heine
Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Heinrich Heine und seinem Gedicht „Das ist der alte Märchenwald!“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.
- Heine, Heinrich - Lyrisches Intermezzo (Gedichtinterpretation)
- Heine, Heinrich - Deutschland. Ein Wintermärchen (historischer Hintergrund & Analyse)
- Heine, Heinrich - Nachtgedanken (Gedichtinterpretation)
- Heine, Heinrich - Deutschland. Ein Wintermärchen (Gedichtinterpretation)
- Heine, Heinrich - Du bist wie eine Blume (Gedichtinterpretation)
Weitere Gedichte des Autors Heinrich Heine (Infos zum Autor)
- Abenddämmerung
- Ach, die Augen sind es wieder
- Ach, ich sehne mich nach Thränen
- Ach, wenn ich nur der Schemel wär’
- Ahnung
- Allnächtlich im Traume seh’ ich dich
- Almansor
- Als ich, auf der Reise, zufällig
- Alte Rose
- Altes Lied
Zum Autor Heinrich Heine sind auf abi-pur.de 535 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
Freie Ausbildungsplätze in Deiner Region
besuche unsere Stellenbörse und finde mit uns Deinen Ausbildungsplatz
erfahre mehr und bewirb Dich direkt