Der Nöckergreis von Wilhelm Busch

Ich ging zum Wein und ließ mich nieder
Am langen Stammtisch der Nöckerbrüder.
Da bin ich bei einem zu sitzen gekommen,
Der hatte bereits das Wort genommen.
 
"Kurzum" - so sprach er - "ich sage bloß,
Wenn man den alten Erdenkloß,
Der, täglich teilweis aufgewärmt,
Langweilig präzis um die Sonne schwärmt,
Genau besieht und wohl betrachtet
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Und, was darauf passiert, beachtet,
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So findet man, und zwar mit Recht,
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Daß nichts so ist, wie man wohl möchte.
 
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Da ist zuerst die Hauptgeschicht:
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Ein Bauer traut dem andern nicht.
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Ein jeder sucht sich einen Knittel,
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Ein jeder polstert seinen Kittel,
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Um bei dem nächsten Tanzvergnügen
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Gewappnet zu sein und obzusiegen,
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Anstatt bei Geigen- und Flötenton,
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Ein jeder mit seiner geliebten Person,
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Fein sittsam im Kreise herumzuschweben.
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Aber nein! Es muß halt Keile geben.
 
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Und außerdem und anderweitig:
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Liebt man sich etwa gegenseitig?
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Warum ist niemand weit und breit
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Im vollen Besitz der Behaglichkeit?
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Das kommt davon, es ist hinieden
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Zu vieles viel zu viel verschieden.
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Der eine fährt Mist, der andre spazieren;
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Das kann ja zu nichts Gutem führen,
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Das führt, wie man sich sagen muß,
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Vielmehr zu mehr und mehr Verdruß.
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Und selbst, wer es auch redlich meint,
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Erwirbt sich selten einen Freund.
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Wer liebt z. B. auf dieser Erde,
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Ich will mal sagen, die Steuerbehörde?
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Sagt sie: Besteuern wir das Bier,
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So macht's den Christen kein Pläsier.
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Erwägt sie dagegen die Steuerkraft
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Der Börse, so trauert die Judenschaft;
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Und alle beide, so Jud wie Christ,
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Sind grämlich, daß diese Welt so ist.
 
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Es war mal 'ne alte runde Madam,
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Deren Zustand wurde verwundersam.
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Bald saß sie grad, bald lag sie krumm,
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Heut war sie lustig und morgen frumm;
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Oft aß sie langsam, oft aber so flink,
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Wie Heinzmann, eh er zum Galgen ging.
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Oft hat sie sogar ein bissel tief
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Ins Gläschen geschaut, und dann ging's schief.
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Sodann zerschlug sie mit großem Geklirr
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Glassachen und alles Porzellangeschirr.
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Da sah denn jeder mit Schrecken ein:
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Es muß wo was nicht in Ordnung sein.
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Und als sich versammelt die Herren Doktoren,
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Da kratzten dieselben sich hinter den Ohren.
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Der erste sprach: "Ich befürchte sehr,
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Es fehlt der innere Durchgangsverkehr;
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Die Gnädige hat sich übernommen;
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Man muß ihr purgänzlich zu Hilfe kommen."
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Der zweite sprach: "O nein, mitnichten.
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Es handelt sich hier um Nervengeschichten."
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"Das ist's" - sprach der dritte - "was ich auch ahne;
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Man liest zu viele schlechte Romane."
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"Oder" - sprach der vierte - "sagen wir lieber,
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Man hat das Schulden- und Wechselfieber."
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"Ja" - meinte der fünfte - "das ist es eben;
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Das kommt vom vielen Lieben und Leben."
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"O weh" - rief der sechste - "der Fall ist kurios;
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Am End ist die oberste Schraube los."
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"Ha" - schrie der letzte - "das alte Weib
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Hat unbedingt den Teufel im Leib;
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Man hole sogleich den Pater her,
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Sonst kriegen wir noch Malör mit der."
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Der Pater kam mit eiligen Schritten;
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Es tät den Teufel nicht lange bitten;
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Er spricht zu ihm ein kräftiges Wort:
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"Raus raus, und hebe dich fort,
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Du Lügengeist,
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Der frech und dreist
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Sich hier in diesen Leib gewagt!"
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"I mag net!" - hat der Teufel gesagt.
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Hierauf - doch lassen wir die Späß,
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Denn so was ist nicht sachgemäß.
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Ich sage bloß, die Welt ist böse.
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Was soll zum Beispiel das Getöse,
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Was jetzt so manche Menschen machen
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Mit Knallbonbons und solchen Sachen.
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Man wird ja schließlich ganz vertattert,
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Wenn's immer überall so knattert.
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Das sollte man wirklich solchen Leuten
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Mal ernstlich verbieten und zwar beizeiten,
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Sonst sprengen uns diese Schwerenöter
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Noch kurz und klein bis hoch in den Äther,
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Und so als Pulver herumzufliegen,
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Das ist grad auch kein Sonntagsvergnügen.
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Wie oft schon sagt ich: "Man hüte sich."
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Was hilft's? Man hört ja nicht auf mich.
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Ein jeder Narr tut, was er will.
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Na, meinetwegen! Ich schweige still!«
 
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So räsonierte der Nöckergreis.
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Uns aber macht er so leicht nichts weis;
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Und ging's auch drüber oder drunter,
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Wir bleiben unverzagt und munter.
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Es ist ja richtig: Heut pfeift der Spatz
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Und morgen vielleicht schon holt ihn die Katz;
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Der Floh, der abends krabbelt und prickt,
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Wird morgens, wenn's möglich, schon totgeknickt;
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Und dennoch lebt und webt das alles
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Recht gern auf der Kruste des Erdenballes.
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Froh hupft der Floh.
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Vermutlich bleibt es noch lange so.

Details zum Gedicht „Der Nöckergreis“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
112
Anzahl Wörter
711
Entstehungsjahr
1832 - 1908
Epoche
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus

Gedicht-Analyse

Das ausgewählte Gedicht ist „Der Nöckergreis“ von Wilhelm Busch, einem deutsche Dichter und Zeichner, der vor allem durch seine lustigen, bissigen und gesellschaftskritischen Verse bekannt ist. Diese längere erzählende Dichtung wurde veröffentlicht in Buschs späten Schaffensjahren, wahrscheinlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts oder Anfang des 20. Jahrhunderts.

Der erste Eindruck des Gedichts ist von seiner Länge und Komplexität geprägt. Es besteht aus sechs unterschiedlich langen Strophen und insgesamt 112 Versen. Der Text ist in Erzählform gehalten und wirkt eher wie eine prosaische Erzählung als ein typisches lyrisches Gedicht.

Inhaltlich reflektiert der Text Kritik an der Gesellschaft und dem menschlichen Zusammenleben. Das lyrische Ich, der Nöckergreis, bringt verschiedene Unzulänglichkeiten und Probleme zur Sprache, angefangen von der Natur des Menschen, der sich stets in Einigkeit und Konflikten befindet („Ein Bauer traut dem andern nicht“), bis hin zu grundlegenderen sozioökonomischen Fragen wie der Besteuerung und der Unterschiedlichkeit der Lebensstile („Der eine fährt Mist, der andere spaziert“).

Der Nöckergreis ist hierbei als Misanthrop zu lesen, der zwar die Makel der Gesellschaft schneidig auf den Punkt bringt, dabei aber keinerlei konstruktive Lösungsansätze liefert und am Schluss resigniert erklärt, über die Torheiten der Menschheit einfach zu schweigen. Die grundlegende Haltung, die im Gedicht zum Ausdruck kommt, ist somit eine satirische, pessimistische und letztlich resignierte Sicht auf die Welt und ihre Bewohner.

Formal gesehen handelt es sich bei „Der Nöckergreis“ um ein Gedicht in gereimten Versen. Die Metrik variiert, ebenso wie die Länge der Strophen. Auffällig ist die teilweise recht alltagssprachliche, saloppe Sprache, die das lyrische Ich nutzt – zum Beispiel „Kurzum“, „bloß“ oder „Na, meinetwegen! Ich schweige still!“. Diese unterstützt den sarkastisch-kritischen Ton des Gedichts und macht es gleichzeitig lebhaft und unterhaltsam zu lesen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Der Nöckergreis“ eine typisch buschsche Kritik an menschlicher Dummheit und Selbstsucht ist, verpackt in satirische Verse, die perfekt den Drahtseilakt zwischen Humor und Bitterkeit meistern. Mit seiner ironischen Grundhaltung und dem unverkennbaren Ton entspricht es voll und ganz dem Stil, der Wilhelm Busch als Dichter und Zeichner berühmt gemacht hat.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Nöckergreis“ des Autors Wilhelm Busch. 1832 wurde Busch in Wiedensahl geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1848 bis 1908 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus, Naturalismus oder Moderne zuordnen. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das vorliegende Gedicht umfasst 711 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 112 Versen. Wilhelm Busch ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf den Sonntag früh Morgen“, „Bedächtig“ und „Befriedigt“. Zum Autor des Gedichtes „Der Nöckergreis“ haben wir auf abi-pur.de weitere 208 Gedichte veröffentlicht.

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