Die Roggenmuhme von Jakob Loewenberg

Das Mägdlein spielt auf dem grünen Rain,
die bunten Blumen locken.
"Nicht sieht mich die Mutter" - Ins Korn hinein
schleicht sacht es auf weichen Socken.
 
"Die roten und blauen Blumen wie schön!
Die will ich zum Kranz mir winden;
doch weiter hinein ins Feld muß ich gehn,
dort werd' ich die schönsten finden."
 
Und weiter eilt es. Gefüllt ist die Hand,
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da will es zurück sich wenden.
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Es läuft und läuft und steht wie gebannt,
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das Korn will nimmer enden.
 
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"Hinaus zum Rain, zum Sonnenlicht!
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Wo blieb die Mutter, die süße?"
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Die Halme schlagen ihm ins Gesicht,
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die Winde umschlingt die Fübe.
 
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Und horch, da rauscht's unheimlich bang,
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die Ähren wallen und wogen.
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"Da kommt - ach, daß ich der Mutter entsprang
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die Roggenmuhme gezogen!"
 
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Sie kommt heran auf Windesfahrt,
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die roten Augen blitzen,
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gelb ist die Wange, langstachlicht ihr Bart,
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die Haare sind Ährenspitzen.
 
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"Wie kommst du her in mein Revier
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und gehst auf verbotenen Pfaden?
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Was raubst du meine Kinder mir,
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Kornblumen und Mohn und Raden?
 
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Weh dir!" Sie streckt die Hand nach ihm aus,
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es fühlt die stechenden Grannen.
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"Nimm hin deine Blumen, und laß mich nach Haus!"
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Und bebend stürzt es von dannen.
 
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Fort, fort zur Mutter! Das Korn nimmt kein End',
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vergebens will es entwischen,
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die Roggenmuhme dicht hinter ihm rennt,
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die Ähren höhnen und zischen.
 
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Schon fühlt es, wie ihr Arm es umschlingt.
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"Erbarme dich mein, erbarme!"
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Dort ist der Rain. "O Mutter!" - Da sinkt
40 
das Kind ihr tot in die Arme.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.9 KB)

Details zum Gedicht „Die Roggenmuhme“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
250
Entstehungsjahr
1856 - 1929
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht namens „Die Roggenmuhme“ wurde von Jakob Loewenberg verfasst. Da der Autor im Jahr 1856 geboren wurde und 1929 verstarb, kann das Werk dem späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert zugeordnet werden.

Bereits beim ersten Lesen des Gedichts fallen einem die düstere Stimmung und der traurige Ausgang des Werks auf. Es ist ein wenig mit einer gruseligen Sage vergleichbar. Das Kind, das sich ins hohe Kornfeld begibt, findet den Weg nicht mehr hinaus und wird von einer unheimlichen Gestalt verfolgt.

Im Gedicht spielt ein junges Mädchen auf einer grünen Wiese („Rain“) und wird von den bunten Blumen ins Kornfeld gelockt. Der Wunsch, einen Kranz aus den schönsten Blumen zu binden, treibt sie immer tiefer ins Korn. Doch auf dem Rückweg verliert sie ihre Orientierung und kann den Anfang des Feldes nicht mehr finden. Es versucht seinen Weg zurück zur Mutter zu finden, doch das Kornfeld scheint endlos zu sein. Dabei spürt es die drohende Gefahr, in der Gestalt der Roggenmuhme - einer Art Ähren-Hexe. Diese Ungestalt beschuldigt das Mädchen, ihre „Kinder“, also die Feldfrüchte, geraubt zu haben. In seiner Furcht lässt das Mädchen die gesammelten Blumen fallen und versucht vor der Roggenmuhme zu fliehen, die ihm allerdings immer dichter auf den Fersen ist, bis es schließlich seiner Mutter tot in die Arme sinkt.

Formal äußert sich das Gedicht in regelmäßigen acht Versen pro Strophe. Es besteht aus zehn Strophen mit jambischen Versen (unbetont-betont) in einem regelmäßigen Vier-Viertel-Takt. Hervorzuheben ist die impressionistische Sprache des Gedichts, die den Leser das Kornfeld, die Ängste des Kindes und die Bedrohung durch die Roggenmuhme fühlen lassen. Die verwendete Personifizierung der Roggenmuhme dient zur Illustration der Angst des Kindes und intensiviert die unheimliche Stimmung des Werks.

Inhaltlich handelt das Gedicht von Verführung, Konsequenzen und der Belohnung voreiligen, unbedachten Handelns. Dies lässt sowohl Parallelen zur biblischen Geschichte von Adam und Eva, als auch zu vielen Märchen zu. Die Strafe des Mädchens erfolgt für das Zertreten und das Rauben von Feldfrüchten - etwas, dass sie wohl eher mit unschuldiger Naivität als mit böswilligem Vorsatz gemacht hat. Es stellt somit auch die Frage nach Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe.

Zusammenfassend ist „Die Roggenmuhme“ ein Gedicht, das in eindringlicher Weise und mit starken Bildern von Unschuld, Verführung, Angst und Tod erzählt. Es lässt viele Interpretationen zu und kann gleichzeitig als Warnung, Rätsel oder Allegorie verstanden werden.

Weitere Informationen

Jakob Loewenberg ist der Autor des Gedichtes „Die Roggenmuhme“. Der Autor Jakob Loewenberg wurde 1856 in Niederntudorf bei Salzkotten geboren. In der Zeit von 1872 bis 1929 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Realismus, Naturalismus, Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das 250 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Jakob Loewenberg ist auch der Autor für Gedichte wie „Wandern“ und „Auf der Straßenbahn“. Zum Autor des Gedichtes „Die Roggenmuhme“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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