Bald von Friedrich Theodor Vischer

Es währt noch eine kurze Weile,
daß du durch diese Straße gehst
hinauf, herab die lange Zeile,
und manchmal grüßend stillestehst.
 
Bald wird der ein' und andre sagen:
Den Alten sehen wir nicht mehr,
er ging an kalt' und warmen Tagen
doch hier sein Stündchen hin und her.
 
Es sei! Des Lebens volle Schalen
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hab ich geneigt an meinen Mund,
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und auch des Lebens ganze Qualen
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hab ich geschmeckt bis auf den Grund.
 
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Getan ist manches, was ich sollte,
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nicht spurlos lass' ich meine Bahn;
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doch manches, was ich sollt' und wollte,
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wie manches ist noch ungetan!
 
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Wohl sinkt sie immer noch zu frühe
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herab, die wohlbekannte Nacht,
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doch wer mit aller Sorg und Mühe
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hat je sein Tagewerk vollbracht!
 
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Schau um dich! Sieh die hellen Blicke,
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der Wangen jugendfrisches Blut,
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und sage dir: In jede Lücke
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ergießt sich junge Lebensglut.
 
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Es ist gesorgt, brauchst nicht zu sorgen;
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mach Platz, die Menschheit stirbt nicht aus.
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Sie feiert ewig neue Morgen,
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du steige fest ins dunkle Haus!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.9 KB)

Details zum Gedicht „Bald“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
166
Entstehungsjahr
1807 - 1887
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Bald“ wurde verfasst von Friedrich Theodor Vischer, einem deutschschweizerischen Literaturwissenschaftler und Dichter des 19. Jahrhunderts. Da Vischer zwischen 1807 und 1887 lebte, ist auch dieses Gedicht im Kontext des 19. Jahrhunderts zu betrachten.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht den Lauf des Lebens, das Altern und die Konfrontation mit dem eigenen Tod zu thematisieren. Das lyrische Ich reflektiert über das nahende Ende, begleitet von einer Dynamik zwischen rückwärtiger Reflektion, aktuellen Momenten und zukünftigen Betrachtungen.

Das Gedicht beginnt mit der Vorhersage eines nahenden Abschieds, da das lyrische Ich bald nicht mehr 'durch diese Straße' gehen wird. Dieses kontinuierliche Gehen könnte als Metapher für den Lebensweg des lyrischen Ichs betrachtet werden, der bald vorbei sein wird. In den nächsten Strophen reflektiert das lyrische Ich, dass es sowohl das Gute (die 'vollen Schalen des Lebens') als auch das Schlechte (die 'Lebensqualen') im Leben erfährt hat. Das Gedicht endet mit der Erkenntnis, dass trotz aller Bemühungen immer eine Lücke, immer etwas Unerledigtes zurückbleibt - ein menschliches Dilemma, das niemand ganz erfüllen kann.

In Bezug auf die Form und Sprache zeichnet sich das Gedicht durch einen klaren und präzisen Stil aus. Die Sprache ist eher einfach, daher gut verständlich und die Verse sind kurze und präzise gehalten. Das metrische Schema ist ein vierzeiliger Kreuzreim. Die Rhythmen und der Reim stützen die Klarheit und Präzision der Bilder und des Inhalts.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Vischer in „Bald“ die Wehmut über das Vergängliche und den Respekt vor dem unausweichlichen Lebenszyklus thematisiert. Dennoch herrscht in diesem Gedicht keine depressive Stimmung, sondern eher eine Akzeptanz und Besonnenheit, die der Leser in der Auseinandersetzung mit den Themen des Alterns und des Endes finden kann. Es ist auch ein Aufruf an die Menschheit, die Kontinuität und Langlebigkeit des Lebens trotz der Endlichkeit des individuellen Daseins zu feiern.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Bald“ des Autors Friedrich Theodor Vischer. Geboren wurde Vischer im Jahr 1807 in Ludwigsburg. In der Zeit von 1823 bis 1887 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus oder Naturalismus zu. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 166 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 28 Versen. Der Dichter Friedrich Theodor Vischer ist auch der Autor für Gedichte wie „Gesellschaft“, „Ein Augenblick“ und „Breite und Tiefe“. Zum Autor des Gedichtes „Bald“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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