Das Ich von Heinrich Seidel

Ich lag zur Nacht vom Schlaf geflohn
Die Mitternacht vorüber schon,
Es schlief die Welt - so stumm die Nacht
Nur im Gebälk der Holzwurm wacht.
Knirscht hier und dort mit ems'gem Nagen.
Von Zeit zu Zeit die Uhren schlagen,
Zuweilen rieselt von den Wänden,
Gelöst von unsichtbaren Händen
Der Kalkstaub nieder - Alles nur,
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Dass man die Stille hört in der Natur.
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Ich lag und sann, und über mich
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Da kam's mit einmal sonderlich,
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Dass ich des Ich's mir ward bewusst,
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Und seltsam schnürt es meine Brust,
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Und wie ein Wunder fiel's mir ein
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Das sonderbare Ding: Zu sein.
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Dass ich hier lag und dass ich war,
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Gar seltsam schien es mir fürwahr,
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Und dass ich mitten in die Welt
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Nun grade so dahingestellt,
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Dass mir auch nimmer blieb ein Schein,
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Wie es denn sollte anders sein.
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Mich fasst' es wie ein Grauen schier
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So stand ich gleichsam ausser mir,
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Betrachtend das kuriose Ding,
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Das als mein "Ich" auf Erden ging.
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Ein Sieden wühlte mir durch's Hirn
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Und fiebernd pochte mir die Stirn
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Ich sah mich an der Schwelle stehn,
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Wo wir das grosse Dunkel sehn,
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An jenem unerforschten Pfad,
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Den Niemand lebend noch betrat.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25 KB)

Details zum Gedicht „Das Ich“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
196
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Das Ich“ wurde von Heinrich Seidel verfasst, einem deutschen Dichter und Schriftsteller, der im 19. Jahrhundert lebte (1842-1906). Bei einer ersten Lektüre fällt auf, dass der Dichter ein tiefsinniges Thema - die Existenz und Bewusstwerdung des individuellen Selbst - behandelt.

Das lyrische Ich erzählt hier aus der Perspektive einer schlaflosen Nacht. Die Welt schläft, nur einzelne Geräusche wie das Knirschen eines Holzwurms oder das Schlagen einer Uhr durchbrechen die Stille. In dieser Einsamkeit und Ruhe wird das lyrische Ich plötzlich stark bewusst über seine eigene Existenz („Dass ich des Ich's mir ward bewusst“) und darüber, dass es ein lebendes, fühlendes Wesen ist („Das sonderbare Ding: Zu sein“). Dieses Bewusstsein löst bei ihm sowohl Erstaunen als auch eine Art 'Grauen' aus, als ob es sich plötzlich als fremdartiges Wesen betrachtet.

Die intensive emotionale Erfahrung, die durch dieses Bewusstsein des eigenen „Ichs“ ausgelöst wird, erinnert an philosophische Diskussionen über das Selbst und das Bewusstsein, aber sie kann auch als ein Ausdruck von existenzieller Angst interpretiert werden.

Das Gedicht ist formal ziemlich gleichmäßig, mit jedem Vers in ähnlicher Länge und der gleichen Betonung. Die poetische Sprache ist bildhaft und suggestiv, mit lebendigen Beschreibungen der Nacht und des Empfinden des lyrischen Ichs. Der Verfasser verwendet Wörter und Ausdrücke, die die Intensität und Tiefe seines Innenlebens vermitteln, wie „seltsam“, „Wunder“, „Grauen“ oder „fiebernd“.

Zusammenfassend ist „Das Ich“ ein Gedicht, das die menschliche Erfahrung des Selbsterkennens in dichterischer Sprache einfängt. Es illustriert die Tiefe und Komplexität unseres Bewusstseins und bietet gleichzeitig ein berührendes Bild der menschlichen Existenz.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Das Ich“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Heinrich Seidel. 1842 wurde Seidel in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1858 bis 1906 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zuordnen. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 196 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 32 Versen. Weitere Werke des Dichters Heinrich Seidel sind „Meine Puppe kriegst du nicht!“, „Hänschen auf der Jagd“ und „Die Gaben“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Ich“ weitere 216 Gedichte vor.

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