Der Schädel von Heinrich Seidel

Vor mir steht im Lampenschein
Eines Schädels Hohlgebein
Nur noch schwarze Schatten träumen
In den leeren Augenräumen
Seines bleichen Angesichts.
Die einst hier den Tag getrunken,
Ach verloschen sind die Funken,
Eine Welt ist hier versunken!
Und aus Höhlen, leer des Lichts,
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Finster schaut ein todtes Nichts!
 
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Bleicher Schädel, lebensbar,
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Künde mir, was einstmals war!
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Standest du in schwarzen Locken?
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Prangtest du in goldnen Flocken?
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Trugst du einst ein flatternd Band?
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Schmückte dich des Helmes Blinken?
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Bunter Federn heitres Winken?
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Drückten dich der Krone Zinken.
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Eh' du kamst in jenes Land,
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Draus den Rückweg keiner fand?
 
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Bleicher Schädel, leer und hohl,
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Höre meine Fragen wohl!
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Welche waren die Gedanken,
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Die von deinem Hirne tranken?
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Suchtest du der Minne Sold?
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Grubst du in der Weisheit Schränken?
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Stand der Sinn dir nach den Schänken?
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Ging auf edle That dein Denken?
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Giertest du nach Ruhm und Gold?
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Alles ist dahin gerollt!
 
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Meinen Fragen hörest du
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Mit dem bleichen Grinsen zu.
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Deinen Kiefern schwand das Leben
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Und du kannst nicht Antwort geben;
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Aber was dein Grinsen sagt,
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Dieses will ich treu berichten:
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Grausam tödtliche Geschichten
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Von Verzichten und Vernichten,
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Drob die Welt von Anfang klagt
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Und des Menschen Herz verzagt.
 
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Menschenschicksal ist wie Glas,
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Menscheglück wie Blum' und Gras.
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Tückisch wogen Meeresfluthen,
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Gierig lauern Feuersgluthen,
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Und irn Dunkeln wühlt's und webt.
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Wo des Krieges Stürme fuhren,
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Folgt die Pest den blut'gen Spuren;
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Hungersnoth versehrt die Fluren!
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Selbst die feste Erde bebt
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Und verschlingt, was liebt und lebt!
 
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Menschenwerth ist eitel Rauch.
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Kennst du des Erobrers Brauch?
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Eine Krone sieht er blinken
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Und den Siegesapfel winken
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An des Ruhmes stolzem Baum,
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Und umjubelt von den Tröpfen.
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Die aus seiner Gnade schöpfen,
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Wirft er sich mit Menschenköpfen
59 
Kühn herab den goldnen Traum!
60 
Menschenwerth ist eitel Schaum!
 
61 
Und was nützt, dass Einer lag
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Im geschmückten Sarkophag?
63 
Einstmals kommen sie in Schaaren,
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Wilde, plündernde Barbaren,
65 
Gierig auf Geschmeid' und Gold.
66 
Und die Beile hört man pochen,
67 
Und die Ruhstatt wird erbrochen,
68 
Und man wühlt in Wust und Knochen!
69 
In den Staub der Strasse rollt,
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Dem man Ehrfurcht einst gezollt!
 
71 
Ach, vielleicht in Jahr und Tag
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Sieht ein Mensch von meinem Schlag
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Meinen Schädel vor sich ragen,
74 
Und er fragt ihn all die Fragen,
75 
Die ich dir, du Schädel, thu'.
76 
"Die einst hier den Tag getrunken,
77 
"Ach, verloschen sind die Funken,
78 
"Eine Welt ist hier versunken!
79 
Und in stiller Todesruh'
80 
Grins' ich ihm, wie du mir, zu!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.8 KB)

Details zum Gedicht „Der Schädel“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
398
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Schädel“ wurde von Heinrich Seidel geschrieben, einem deutschen Ingenieur und Schriftsteller, der von 1842 bis 1906 lebte. Es fällt damit in das 19. Jahrhundert und kann der literarischen Epoche des Realismus zugerechnet werden.

Das Gedicht beginnt damit, dass das lyrische Ich einen menschlichen Schädel im Licht einer Lampe betrachtet. Die hohlen Augenhöhlen, die einst lebendig waren, sind jetzt dunkel und ohne irgendeine Spur von Leben. Das lyrische Ich verweist auf den ehemaligen Träger des Schädels, dass seine Existenz nun versunken und ausgelöscht ist.

In den folgenden Strophen stellt das lyrische Ich dem Schädel verschiedene Fragen, etwa wie dessen Leben ausgesehen hat, welche Gedanken in dem Schädel kreisten und welche Taten er vollbracht hat. Obwohl der Schädel unmöglich antworten kann, da er tot ist, lässt das lyrische Ich ihn nicht ungerührt. Die vorherigen Leben und Erfahrungen, die in dem Schädel gespeichert waren, sind nun ausgelöscht und unwiederbringlich verloren.

Das lyrische Ich reflektiert darüber, wie das menschliche Schicksal unbeständig ist wie Glas und wie das Glück vergänglich ist wie Blumen und Gras. Es zeigt uns, dass das Leben brutal und unsicher ist und oft von Krieg, Krankheit und Hunger geplagt wird.

In den weiteren Strophen thematisiert Seidel die Eitelkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Wertes und Ruhms. Er spricht über das Verhalten von Eroberern, die ihre Macht und ihren Ruhm genießen, aber nur um schließlich zu fallen und vergessen zu werden. Die letzte Strophe endet mit der Vorstellung, dass das lyrische Ich eines Tages auch nur ein leerer, grinsender Schädel sein wird.

Bei der Form des Gedichts handelt es sich um einen Achtervers bevorzugt ohne Endreim. Es ist in acht Strophen von jeweils zehn Versen gegliedert, die jeweils eine abgeschlossene Einheit bilden. Mit einer Verbindung aus Realität und Imagination präsentiert Seidel in diesem Gedicht seine kritische Sicht auf menschlichen Ehrgeiz und Sterblichkeit.

Die Sprache des Gedichts ist recht komplex, mit vielen Metaphern und symbolischen Bildern, welche die dunklen und melancholischen Themen des Gedichts hervorheben. Manche Schlüsselwörter und Formulierungen des Gedichtes laden zu tieferer Interpretation ein, wie zum Beispiel die Wiederholung des Wortes „Schädel“ hätte eine abschreckende Wirkung haben, wird aber eher zum Symbol des menschlichen Lebens und Todes gemacht.

Insgesamt könnte man sagen, dass „Der Schädel“ eine düstere Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens und Unausweichlichkeit des Todes darstellt, und ein leidenschaftlicher Appell an die Leser ist, das Leben jetzt, während wir Leben haben, voll auszuschöpfen. Es ist ein Mahnmal für die Vergänglichkeit des Lebens und die Nichtigkeit menschlicher Bestrebungen.

Weitere Informationen

Heinrich Seidel ist der Autor des Gedichtes „Der Schädel“. Seidel wurde im Jahr 1842 in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1858 und 1906. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 8 Strophen und umfasst dabei 398 Worte. Die Gedichte „Die schönen Bäume“, „Meine Puppe kriegst du nicht!“ und „Hänschen auf der Jagd“ sind weitere Werke des Autors Heinrich Seidel. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Schädel“ weitere 216 Gedichte vor.

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