Am Wege von Heinrich Seidel

Wir wanderten am heissen Maientag.
Zur Rechten blitzend lag ein See, und sonst
In weitem Bogen ward das grüne Feld
Von sonnbeglänztem Tannenwald umzirkt.
Ein Häuschen dort im hellen Obstbaumgrün,
Ein Ackersmann der seine Furchen zog.
Und hier und da ein Busch - das war die Landschaft.
Wir sprachen mancherlei und achteten
Des Weges wenig.
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Plötzlich sah ich auf:
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Sieh da, ein Mädchen an des Gartens Rand
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Leicht an ein spärlich Bäumlein angelehnt,
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So stand sie da und blickte träumerisch
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Mit blauen Augen in die blaue Ferne.
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Kaum sechzehn Jahr! Noch hatte diese holde
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Die frische jugendblühende Gestalt
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Zur vollen Fülle nicht sich ausgerundet.
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Auf ihrem Antlitz lags wie zarter Flaum
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Der unberührten Frucht. Allein die Augen,
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Sie wussten schon von mehr. Es träumte dort
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In ihrem halbverhüllten Glanz die Ahnung
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Von süss geheimnissvollen Dingen schon.
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Sie blickte uns nicht an - nur in die Ferne.
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So schritten wir vorbei.
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Wie seltsam doch
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Traf dieser Anblick an mein Herz und weckte
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Dort süsse, längst verlorne Melodiien
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Aus einer schönren Zeit. Das Mädchen dort
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War meine Jugend. Ja, sie steht am Weg
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Und blicket mich nicht an und fragt doch still
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"Kennst du mich noch? Und weisst du wohl,
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Wie einst auch dir des Glückes Ahnung aufging,
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Und wie ein rosenrothes Meer der Wonne
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Vor deinen Augen lag?!"
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O goldne Zeit!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.3 KB)

Details zum Gedicht „Am Wege“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
35
Anzahl Wörter
220
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Am Wege“ stammt von Heinrich Seidel, einem deutschen Ingenieur und Schriftsteller. Seidel wirkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei dieser Zeitraum durch viel Umbruch und Veränderung gekennzeichnet war - vom industriellen Fortschritt bis hin zu sozialen Bewegungen.

Auf den ersten Blick ist das Gedicht eine malerische Darstellung einer Landschaft und einer Begegnung mit einem jungen Mädchen. Dennoch lässt es uns über den flüchtigen und vergänglichen Charakter der Zeit nachdenken.

Der Inhalt des Gedichtes dreht sich um eine Wanderung, die der Sprecher an einem Frühlingstag unternimmt. Die Landschaft ist pastoral, mit Anspielungen auf natürliche Elemente wie Felder, Seen und Wälder. Der Sprecher und seine Begleiter beachten ihren Weg nicht besonders, bis der Sprecher ein junges Mädchen bemerkt. Dieses Mädchen, ungefähr 16 Jahre alt und noch nicht vollständig in ihre Weiblichkeit hineingewachsen, steht da und schaut träumerisch in die Ferne. Ihr Blick und ihr Auftreten rufen beim Sprecher Erinnerungen an seine eigene Jugend hervor und bringen eine Welle von Nostalgie mit sich.

Das lyrische Ich scheint die Schönheit und die Verträumtheit der Jugend hervorheben zu wollen sowie die Notwendigkeit, sich an die eigene Jugend zu erinnern, um die Vergangenheit wertzuschätzen und zu verstehen, wer man ist und woher man kommt.

Die Struktur des Gedichts und die Sprache sind somit der Vermittlung dieser Botschaft dienlich. Das Gedicht hat einen einzigen, langen Vers, der sich reimt und einen durchgehenden Rhythmus hat, was die Leser in eine Art Trance versetzen kann, ähnlich dem träumerischen Zustand des Mädchens im Gedicht. Die Sprache ist dicht, bildhaft und erweitert stark die sinnliche Wahrnehmung, wodurch die Leser eingeladen werden, die Atmosphäre zu spüren und in die Erfahrung des lyrischen Ichs einzutauchen.

Die Nostalgie ist ebenfalls ein wichtiges Element der Sprache des Gedichts. Die Worte und die Phrasen, die verwendet werden, um das Mädchen und die Landschaft zu beschreiben, sind voller Sehnsucht nach der Vergangenheit und lassen die Leser die Bittersüße des verlorenen Glücks empfinden, das nur in der Erinnerung existiert.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Am Wege“ ist Heinrich Seidel. Der Autor Heinrich Seidel wurde 1842 in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. In der Zeit von 1858 bis 1906 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zu. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 220 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 35 Versen mit nur einer Strophe. Weitere Werke des Dichters Heinrich Seidel sind „Arbeit ist das Zauberwort“, „Die schönen Bäume“ und „Meine Puppe kriegst du nicht!“. Zum Autor des Gedichtes „Am Wege“ haben wir auf abi-pur.de weitere 216 Gedichte veröffentlicht.

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