Das Kornkind von Heinrich Seidel

Durch seine üppig grüne Saat
Da geht ein Bauer den schmalen Pfad
An einem schönen Sonntagsmorgen
Recht still vergnügt und ohne Sorgen.
Der Himmel hängt voll Lerchensang,
Von Ferne kommt ein Glockenklang,
Und hier und da im Saatengrün
Sieht man wie Gold die Oelsaat blühn,
Des frischen Wachsthums würz'ger Duft
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Erfüllt die sonnenklare Luft.
 
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Doch sieh: Was schimmert dort so weiss,
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Im dunklen Grün? Es naht sich leis
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Der Bauer der verdächt'gen Stelle
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Und sieht auf einem Tüchlein helle
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Ein Kindchen ohne Hemd und Röckchen
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Gar schön mit weizengelben Löckchen,
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Das lächelt ihn so freundlich an
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Und streckt nach ihm die Händchen dann.
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Der Bauersmann nun voll Erbarmen
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Will heben es mit seinen Armen,
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Allein das Kind ist mächtig schwer
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Und schwerer wird es mehr und mehr.
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Vergebens ist des Bauern Streben,
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Er kann es nicht vom Boden heben.
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Soviel er sich auch müht und zwingt
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Es glückt nicht, dass er's aufwärts bringt.
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Das Kindlein aber lächelt immer,
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Es strahlt von ihm ein sanfter Schimmer,
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Und endlich glänzet es wie Gold.
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Dann tönt sein Stimmlein rein und hold:
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"Hast wohl vertraut, hast wohl gebaut,
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Gebaut auf Gott!" so singt es laut.
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Doch kaum verklang das letzte Wort,
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Da schwand es aus den Händen fort,
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Und rings war weiter nichts zu sehn,
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Als nur der grünen Halme Wehn.
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"Das Kornkind war's!" so rief der Bauer
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Und ihn befiel ein holder Schauer,
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Weil es auf seinem Feld gelegen,
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Denn das bedeutet schweren Segen
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Wie er seit Jahren nicht geschehen
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Gott geb' ihn Allen, die da säen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Das Kornkind“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
254
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Das Kornkind“ wurde von Heinrich Seidel verfasst, einem deutschen Ingenieur und Schriftsteller, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht harmonisch und erzählt eine ruhige Geschichte. Es vermittelt ein Gefühl von Landwirtschaft, Natur und Spiritualität und ist dabei bildreich und farbenfroh.

Inhaltlich erzählt das Gedicht eine allegorische Geschichte. Ein Bauer geht frühmorgens durch seine üppige Saat. Auf seiner Wanderung entdeckt er ein kleines Kind, das auf einem Tuch inmitten des grünen Feldes liegt. Das Kind, das von einem goldenen Schein umgeben ist und scheinbar zu schwer ist, um vom Boden gehoben zu werden, gibt dem Bauern Hoffnung und singt Worte des Glaubens und Vertrauens. Als das Kind verschwindet, erkennt der Bauer, dass es sich um das „Kornkind“ handelt. Dieses ist ein Symbol für eine gute Ernte und Gottes Segen für die hart arbeitenden Menschen auf dem Feld.

Die Aussage des lyrischen Ich, hauptsächlich durch die Erzählstimme des Bauern repräsentiert, ist eine Botschaft des Vertrauens, des Glaubens und der Hoffnung. Es spricht die Anstrengungen und den Fleiß der Bauern an und betont den Segen und die Belohnung, die sie dafür erhalten.

Im Hinblick auf die Form besteht das Gedicht aus zwei klar abgetrennten Strophen, wobei die zweite bedeutend länger ist als die erste. Es folgt kein konventionelles Reimschema, was eine gewisse Lockerheit und Freiheit in seiner Struktur vermittelt. Die Sprache des Gedichts ist bildreich und malerisch, sehr detailliert und voller Symbolsprache. Der Autor verwendet Naturmetaphern, um tiefergehende Konzepte und Emotionen wie Hoffnung, Fleiß, Belohnung und Spiritualität zu vermitteln. Die detaillierte Beschreibung der Szenerie und die ausführliche Darstellung der Emotionen des Bauern tragen zur intensiven Atmosphäre und zum lebendigen Bild des Gedichts bei.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Das Kornkind“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Heinrich Seidel. Der Autor Heinrich Seidel wurde 1842 in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Zwischen den Jahren 1858 und 1906 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 254 Wörter. Es baut sich aus 2 Strophen auf und besteht aus 42 Versen. Die Gedichte „Die Gaben“, „Der Luftballon“ und „April“ sind weitere Werke des Autors Heinrich Seidel. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Kornkind“ weitere 216 Gedichte vor.

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