Der angehende Dieb von Heinrich Seidel

Es war ein junger Muselmann
Durchaus gewillt, ein Dieb zu werden,
Drum reiste er nach Chorassan,
Weil es bekannt, dass auf der Erden
Kein grössrer Meister solcher Art
Als gerade dort gefunden ward.
 
Der Meister nahm ihn freundlich auf;
Die Tafel war gedeckt im Saale,
Und Alle setzten sich darauf
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Vergnüglich hin zum Mittagsmahle.
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Der Schüler ass in guter Ruh ...
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Der Meister sah verwundert zu.
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"Ei, du verstehst, ich seh' es schon,
 
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Zu essen nicht und nicht zu trinken;
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Die Rechte brauchest du, mein Sohn,
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Und wir bedienen uns der Linken.
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Mich wundert, dass du Dieb dich nennst
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Und nicht die Tischgebräuche kennst."
 
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"Du fragst, warum? Zu unserm Heil,
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Denn alle Tage kann's passiren,
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Dass man die rechte Hand durch's Beil
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Des Henkerknechtes muss verlieren,
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Drum übt die Linke man bei Zeit
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Und kommt nicht in Verlegenheit!"
 
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Dem Schüler ward so wunderlich:
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Ein Schauer ging ihm durch die Glieder,
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Und ganz im Stillen schob er sich
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Zur Thür hinaus und kam nicht wieder
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Und sprach: "Bei Allah, der mich schuf,
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Ich fand ein Haar in dem Beruf!"
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.1 KB)

Details zum Gedicht „Der angehende Dieb“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
177
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht stammt von dem deutschen Dichter und Ingenieur Heinrich Seidel, der von 1842 bis 1906 lebte. Demnach lässt es sich in die Epoche des Realismus einordnen, allerdings zeigt es auch humoristische Elemente.

Beim ersten Lesen des Gedichts fällt sofort auf, dass es eine humorvolle, fast märchenhafte Komponente hat, welche den Ernst des Themas untergräbt. Der Protagonist des Gedichts ist ein junger Mann, der entschlossen ist, ein Dieb zu werden. Um dies zu erreichen, reist er nach Chorassan, um von einem Meister in dieser 'Kunst' zu lernen. Bei seinem ersten gemeinsamen Mittagessen mit dem Meister und den anderen Dieben, wird er jedoch aufgrund seiner Tischmanieren, er nutzt die rechte Hand zum Essen, kritisiert. Der Meister erklärt, dass es besser sei, die linke Hand zum Essen zu verwenden, weil sie die Gefahr laufen, die rechte Hand als Strafe für ihre Vergehen zu verlieren. Dieser Gedanke schockiert den angehenden Dieb so sehr, dass er den Raum verlässt und nicht zurückkehrt, sichtlich enttäuscht von seinem gewählten Beruf.

Das lyrische Ich, in diesem Fall auch der Protagonist, wird mit der brutalen Realität des Diebeslebens konfrontiert und entscheidet sich, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen. Seine Unschuld und Naivität werden durch den Kontrast zwischen seinen romantisierten Vorstellungen und der harten Realität hervorgehoben. Es ist eine Warnung vor dem Streben nach falschen Idealen und gefährlichen Pfaden.

Das Gedicht besteht aus fünf Strophen. Die erste und letzte Strophe bestehen jeweils aus sechs Versen, die mittleren Strophen variieren zwischen fünf und sieben Versen. Es gibt kein festgelegtes Reimschema oder Metrum. Die Sprache ist unkompliziert und in einfacher Sprache gehalten, die den Humor und die Pointe gut zur Geltung kommen lässt. Die Wahl des Ortes und der Figuren verleiht dem Gedicht eine exotische und märchenhafte Atmosphäre. Es liefert eine lehrreiche Botschaft auf eine humorvolle und unterhaltsame Weise, die den Leser zum Nachdenken anregt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Der angehende Dieb“ ist Heinrich Seidel. Seidel wurde im Jahr 1842 in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1858 und 1906. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das Gedicht besteht aus 30 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 177 Worte. Der Dichter Heinrich Seidel ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Zug des Todes“, „Der Tod Moltkes“ und „Wälder im Walde“. Zum Autor des Gedichtes „Der angehende Dieb“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 216 Gedichte vor.

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