Die goldne Hochzeit von Friedrich Rückert

"Brechet auf den Felsenschacht,
Der geruht hat lang;
Zieht hervor aus seiner Nacht
Goldnen Überschwang!
Sprenget auf den Grubengang,
Daß die Wunderpracht,
Die er längst in sich verschlang
Sei an's Licht gebracht!"
 
Höret ihr, wie auf den Höhn
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Zither spielt der Geist,
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Wie uns lockend sein Getön
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Hier zur Bergwand weist?
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Rühret Arm' und Waffen dreist,
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Wühlet mit Gedröhn,
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Bis der Fund, den er verheißt,
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Daliegt goldenschön!
 
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Und die Schar der Knappen bringt,
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Sonder Zeitverlust,
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Schaufel, Karst und Hack', und schwingt
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Sie mit Macht und Lust,
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Bis ihr Fleiß den tauben Wust
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Des Gesteins bezwingt,
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Und entgegen Erzgekrust
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Ihren Streichen springt.
 
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Aber aus dem offenen Spalt
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Was man sich verspricht,
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Zieht man jetzt den Reichgehalt
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Schweren Goldes nicht;
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Staunend aus der Nacht ans Licht
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Zieht man die Gestalt
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Eines Jünglings, von Gesicht
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Schön, doch todeskalt.
 
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Und da liegt er jung und zart,
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Wie ein Lilienreis;
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Ihn bewundernd steht geschart
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Rings ein weiter Kreis.
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Recht als ob zu Gottes Preis
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Er sei aufbewahrt,
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Liegt er da, geschmückt mit Fleiß,
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Wie nach Bräut'gams Art.
 
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Gold ist seiner Schuhe Rand,
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Goldstoff wunderklar
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Wirkt sein schlichtes Leibgewand
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Ihm zum Festtalar;
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Golden schlingt der Ringe Paar
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Sich um jede Hand,
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Und um sein schon goldnes Haar
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Spielt ein goldnes Band.
 
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Kann die Erd' im stillen Raum,
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Wo sie Wunder tut,
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Wandeln so in goldnen Traum
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Staub, Gebein und Blut?
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Selbst der Strauß, der ihm geruht,
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An des Busens Saum
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Blüht verwandelt, wohlbehuht
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Dort als goldner Baum.
 
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Wer sagt an, wie lang es mag
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Sein, daß er verscholl?
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Schlaget eure Chronik nach,
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Die es wissen soll!
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Seht, da steht: Im Berggeroll
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Heut ein Knapp' erlag.
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Heut? ja, fünfzig Jahre voll
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Zählts bis heut zum Tag.
 
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Niemand mehr, der ihn gekannt,
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Der befreundt ihm war?
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Dem er Bruder war genannt,
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Oder Liebster gar?
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Hätt' umsonst ihn, wunderbar
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Uns der Geist gesandt?
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Halt! hier stellt sich eines dar,
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Dem er ist verwandt.
 
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Durch den Strom der Menge bricht,
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Die mit Staunen weicht,
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Eine Greisin; stört sie nicht,
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Wie sie näher schleicht!
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Die, wie sie den Platz erreicht,
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Tränend ihr Gesicht
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Zu dem Jüngling niederneigt,
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dann es hebt und spricht:
 
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Nein! ob schweigen auch der Mund
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Eurer Bücher mag,
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Eine treue Todeskund'
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ist ihm blieben nach;
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Treu, wie er bewahret lag
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in des Felsens Schlund,
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Lag er auch bis diesen Tag
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Mir in Herzens Grund.
 
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Die ihr mich von Haupt und Haar
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zitternd und ergraut
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Sehet, heut vor fünfzig Jahr
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War ich seine Braut.
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Er hier, den ihr vor mir schaut
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Liegen goldenklar,
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Sollt als Bräut'gam mir vertraut
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Werden am Altar.
 
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Wartend stand das Brautgemach
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Auf den Bräutigam,
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Als mit ihm die Bergschlucht brach,
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Ihn hinunter nahm.
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Nicht einmal zu Ohren kam
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Mir sein letztes Ach,
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Statt des Bräut'gams kam der Gram
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Zu mir tausendfach.
 
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Fünfundzwanzig Jahr ist viel,
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Wer sie zählt wie ich;
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Langsam zählt' ich, bis zum Ziel
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Fünfundzwanzig schlich.
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Als das Haar schon silberlich
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Um die Stirne fiel
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Fand die Silberhochzeit mich
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Ohne Tanz und Spiel.
 
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Fünfundzwanzig noch einmal
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Gingen mir vorbei,
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Daß ich heut, gebückt und kahl,
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Goldhochzeitrin sei.
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Welche Wunderzauberei
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Bringt an Tages Strahl
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Mir zur Goldhochzeit herbei
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Golden den Gemahl?
 
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Aber, weh, darf ich mich nahn
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Dir mit Liebkosung?
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Du bist schimmernd angetan
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Golden, schön und jung.
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Barg Dich Grabes Dämmerung
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Vor der Zeiten Zahn?
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Doch mich traf Verwitterung
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Auf des Lebens Bahn.
 
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Himmels Mächte, deren Schluß
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Aus des Todes Reich
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Ihn zu hochzeitlichem Gruß
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Sendet schimmerreich;
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Ach was hilft's, wenn todesbleich
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Ich ihm bleiben muß,
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Braut dem Bräutigam nicht gleich
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Wird im Liebeskuß!
 
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Also ruft sie, schweigt und bückt
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sich dem Jüngling nah,
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Auf die frische Lippe drückt
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Sie die welke, ha!
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Eh sie weiß, wie ihr geschah,
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Hat es sie durchzückt,
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Schön verwandelt steht sie da,
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Jugendlich geschmückt.
 
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Leuchtend, wie ihr Junggesell,
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Selbst ein Jungfraunbild,
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Steht sie da, ihr Aug' ein Quell,
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Der von Feuer quillt.
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Ihrer Wange Rose schwillt
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Und der Locken Well',
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Weils der goldnen Hochzeit gilt,
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Wallet golden hell.
 
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Also steht sie dort, und hebt
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Sanft den Blick auf ihn,
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Und ein täuschend Lächeln webt
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Flüchtig über ihn;
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Wie sie so sieht lächeln ihn,
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Schrickt sie auf und bebt
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Ihre Leiche sinkt auf ihn,
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Ihre Seel entschwebt.
 
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Die bewegte Meng' umkreist
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Still das ruh'nde Paar,
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Das, an Jahren hochergreist,
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Jung gestorben war.
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Fern herüber hell und klar
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Zither spielt der Geist
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Über der erstaunten Schar,
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Die sein Wunder preist.

Details zum Gedicht „Die goldne Hochzeit“

Anzahl Strophen
21
Anzahl Verse
168
Anzahl Wörter
721
Entstehungsjahr
1859
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die goldne Hochzeit“ wurde von dem deutschen Dichter Friedrich Rückert verfasst, welcher von 1788 bis 1866 lebte. Man könnte das Werk also zeitlich in die Epoche der Romantik oder des Biedermeier einordnen.

Anfänglich erzeugt das Gedicht einen mystischen, fast abenteuerlichen Eindruck, in dem es vom Aufbrechen eines Felsenschachts und dem Entdecken einer „Wunderpracht“ erzählt. Im Verlauf des Gedichts stellt sich heraus, dass diese „Wunderpracht“ der goldgeschmückte Leichnam eines jungen Mannes ist, der vor langer Zeit in der Mine ums Leben kam. Eine alte Frau, die gestorben scheint, aber in Wirklichkeit die wiedergeborene Geliebte des jungen Mannes ist, erkennt ihn als ihren vor 50 Jahren entzogenen Verlobten, und durch den Kuss wiederum verwandelt sie sich in eine junge Frau. Doch in dem Moment, als sie das realisiert, stirbt sie und ihre Seele entschwebt zu ihrem Gemahl.

Die metaphorische Aussage des Gedichts ist, dass Liebe und Verbundenheit stärker sind als Zeit und Tod. Das lyrische Ich betont, dass die alte Frau trotz des vergangenen halben Jahrhunderts ihren Verlobten nie vergessen hat und dass ihre Liebe zu ihm so stark war, dass sie im Tod wieder mit ihm vereint wurde und sogar ihre Jugendlichkeit zurückgewann.

Das Gedicht ist durchgehend in achtsilbige, vierzeilige Quartette mit dem Reimschema ABAB gegliedert. Dies strukturiert das Gedicht und erzeugt einen melodischen Fluss. Die Sprache des Gedichts ist bildhaft und malerisch, mit einer Mischung aus alltäglichem und erhabenem Vokabular, das die mystische Atmosphäre unterstreicht. Es gibt auch starke Kontraste zwischen dem Tod und dem Leben, der Dunkelheit und dem Licht, der Vergänglichkeit und der Dauerhaftigkeit.

Insgesamt handelt es sich bei „Die goldne Hochzeit“ um ein tiefgreifendes Gedicht, das sowohl die Traurigkeit des Todes als auch die Schönheit der Liebe und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit thematisiert. Es zeigt, wie stark Gefühle sein können und wie sie das menschliche Dasein und Wahrnehmen beeinflussen können. Dabei zeigt Friedrich Rückert eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den Themen Liebe, Tod, und Vergänglichkeit.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die goldne Hochzeit“ ist Friedrich Rückert. Rückert wurde im Jahr 1788 in Schweinfurt geboren. 1859 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Realismus zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epoche sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 721 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 168 Versen mit insgesamt 21 Strophen. Der Dichter Friedrich Rückert ist auch der Autor für Gedichte wie „Der trübe Tag“, „Des fremden Kindes heiliger Christ“ und „Herbstblumen“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die goldne Hochzeit“ weitere 102 Gedichte vor.

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