Aus einer Sturmnacht von Rainer Maria Rilke

Die Nacht, vom wachsenden Sturme bewegt,
wie wird sie auf einmal weit –,
als bliebe sie sonst zusammengelegt
in die kleinlichen Falten der Zeit.
Wo die Sterne ihr wehren, dort endet sie nicht
und beginnt nicht mitten im Wald
und nicht an meinem Angesicht
und nicht mit deiner Gestalt.
Die Lampen stammeln und wissen nicht:
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lügen wir Licht?
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Ist die Nacht die einzige Wirklichkeit
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seit Jahrtausenden …
 
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I
 
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In solchen Nächten kannst du in den Gassen
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Zukünftigen begegnen, schmalen blassen
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Gesichtern die dich nicht erkennen
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und dich schweigend vorüberlassen.
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Aber wenn sie zu reden begännen,
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wärst du ein Langevergangener
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wie du da stehst,
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langeverwest.
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Doch sie bleiben im Schweigen wie Tote,
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obwohl sie die Kommenden sind.
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Zukunft beginnt noch nicht.
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Sie halten nur ihr Gesicht in die Zeit
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und können, wie unter Wasser, nicht schauen;
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und ertragen sie’s doch eine Weile,
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sehn sie wie unter den Wellen: die Eile
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von Fischen und das Tauchen von Tauen.
 
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II
 
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In solchen Nächten gehn die Gefängnisse auf.
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Und durch die bösen Träume der Wächter
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gehn mit leisem Gelächter
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die Verächter ihrer Gewalt.
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Wald! Sie kommen zu dir, um in dir zu schlafen,
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mit ihren langen Strafen behangen.
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Wald!
 
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III
 
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In solchen Nächten ist auf einmal Feuer
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in einer Oper. Wie ein Ungeheuer
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beginnt der Riesenraum mit seinen Rängen
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Tausende, die sich in ihm drängen,
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zu kauen.
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Männer und Frauen
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staun sich in den Gängen,
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und wie sich alle aneinander hängen,
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bricht das Gemäuer, und es reißt sie mit.
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Und niemand weiß mehr wer ganz unten litt;
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während ihm einer schon das Herz zertritt,
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sind seine Ohren noch ganz voll von Klängen,
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die dazu hingehn …
 
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IV
 
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In solchen Nächten, wie vor vielen Tagen,
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fangen die Herzen in den Sarkophagen
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vergangner Fürsten wieder an zu gehn:
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und so gewaltig drängt ihr Wiederschlagen
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gegen die Kapseln, welche widerstehn,
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daß sie die goldnen Schalen weitertragen
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durch Dunkel und Damaste, die zerfallen.
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Schwarz schwankt der Dom mit allen seinen Hallen.
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Die Glocken, die sich in die Thürme krallen,
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hängen wie Vögel, bebend stehn die Thüren,
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und an den Trägern zittert jedes Glied:
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Als trügen seinen gründenden Granit
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blinde Schildkröten, die sich rühren.
 
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V
 
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In solchen Nächten wissen die Unheilbaren:
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wir waren …
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Und sie denken unter den Kranken
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einen einfachen guten Gedanken
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weiter, dort, wo er abbrach.
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Doch von den Söhnen, die sie gelassen,
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geht der jüngste vielleicht in den einsamsten Gassen;
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denn gerade diese Nächte
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sind ihm als ob er zum ersten Mal dächte:
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Lange lag es über ihm bleiern,
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aber jetzt wird sich alles entschleiern –,
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und, daß er das feiern wird,
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fühlt er …
 
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VI
 
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In solchen Nächten sind alle die Städte gleich,
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alle beflaggt.
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Und an den Fahnen vom Sturm gepackt
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und wie an Haaren hinausgerissen
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in irgend ein Land mit ungewissen
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Umrissen und Flüssen.
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In allen Gärten ist dann ein Teich,
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an jedem Teiche dasselbe Haus,
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in jedem Hause dasselbe Licht;
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und alle Menschen sehn ähnlich aus
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und halten die Hände vorm Gesicht.
 
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VII
 
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In solchen Nächten werden die Sterbenden klar,
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greifen sich leise ins wachsende Haar,
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dessen Halme aus ihres Schädels Schwäche
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in diesen langen Tagen treiben,
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als wollten sie über der Oberfläche
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des Todes bleiben.
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Ihre Gebärde geht durch das Haus
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als wenn überall Spiegel hingen;
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und sie geben – mit diesem Graben
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in ihren Haaren – Kräfte aus,
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die sie in Jahren gesammelt haben,
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welche vergingen.
 
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VIII
 
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In solchen Nächten wächst mein Schwesterlein,
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das vor mir war und vor mir starb, ganz klein.
108 
Viel solche Nächte waren schon seither:
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Sie muß schon schön sein. Bald wird irgendwer
110 
sie frein.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (33.2 KB)

Details zum Gedicht „Aus einer Sturmnacht“

Anzahl Strophen
17
Anzahl Verse
110
Anzahl Wörter
583
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Aus einer Sturmnacht“ stammt von dem deutschsprachigen Lyriker Rainer Maria Rilke, welcher von 1875 bis 1926 lebte. Durch den Zeitraum seiner Schaffensjahre lässt sich seine Lyrik in die Epoche des Symbolismus im Übergang zu den modernen Strömungen der Lyrik einordnen.

Beim ersten Lesen des Gedichts fällt auf, dass es van eine Nacht handelt, welche durch die Sturmböe umgestaltet wird. Es sind die extremen Naturkräfte, die die gewohnten Strukturen aufbrechen und diverse Schicksale aufwerfen - von Zukunftsaussichten, über die Befreiung von Strafen, den Ausbruch von Feuer und den Tod bis hin zu Hoffnung und Veränderung.

Inhaltlich handelt das Gedicht also von einer stürmischen Nacht und den verschiedenen Szenarien und Emotionen, welche diese Nacht aus unterschiedlichen Perspektiven auslöst. Das lyrische Ich benutzt die Nacht und den Sturm metaphorisch, um die Weite und Größe von Existenz, Realität und Zeit zu thematisieren. Es werden kraftvolle Bilder und Szenarien von Mensch und Natur erzeugt, allem voran das Bild des Sturms als transformative und aufwühlende Kraft.

Formal besteht das Gedicht aus mehreren Strophen unterschiedlicher Länge. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die einzeiligen Strophen, die jeweils nur eine römische Ziffer enthalten und vermutlich die übrigen Strophen nummerieren sollen. In der Sprache des Gedichts herrscht eine Atmosphäre von Aufbruch und Umbruch vor, was Rilke durch kraftvolle Verben und bildhafte Metaphern erreicht. Insgesamt neigt die Sprache eher zum beschreibenden und erzählenden, was typisch für Rilkes Lyrik ist.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Rilkes Gedicht „Aus einer Sturmnacht“ die existenziellen Themen des Menschseins in bildhafter und metaphorischer Sprache behandelt, wobei der Sturm als Metapher für Umbrüche und Veränderungen dient. Die formale Struktur und die Sprache des Gedichts unterstützen diese Thematisierung.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Aus einer Sturmnacht“ des Autors Rainer Maria Rilke. Rilke wurde im Jahr 1875 in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1906 entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin / Leipzig, Stuttgart. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Der Schriftsteller Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 110 Versen mit insgesamt 17 Strophen und umfasst dabei 583 Worte. Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Allerseelen“, „Als ich die Universität bezog“ und „Am Kirchhof zu Königsaal“. Zum Autor des Gedichtes „Aus einer Sturmnacht“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 338 Gedichte vor.

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