Aus den Blättern eines Mönchs von Rainer Maria Rilke

Sie werden alle wie aus einem Bade
aus ihren mürben Grüften auferstehn;
denn alle glauben an das Wiedersehn
und furchtbar ist ihr Glauben, ohne Gnade.
 
Sprich leise, Gott! Es könnte einer meinen,
daß die Posaune deiner Reiche rief;
und ihrem Ton ist keine Tiefe tief:
da steigen alle Zeiten aus den Steinen,
und alle die Verschollenen erscheinen
10 
in welken Leinen, brüchigen Gebeinen
11 
und von der Schwere ihrer Schollen schief.
12 
Das wird ein wunderliches Wiederkehren
13 
in eine wunderliche Heimat sein;
14 
auch die Dich niemals kannten, werden schrein
15 
und Deine Größe wie ein Recht begehren:
16 
wie Brot und Wein.
 
17 
Allschauender, Du kennst das wilde Bild,
18 
das ich in meinem Dunkel zitternd dichte.
19 
Durch Dich kommt alles, denn Du bist das Thor, -
20 
und alles war in Deinem Angesichte,
21 
eh es in unserm sich verlor.
22 
Du kennst das Bild vom riesigen Gerichte:
 
23 
Ein Morgen ist es, doch aus einem Lichte,
24 
das Deine reife Liebe nie erschuf,
25 
ein Rauschen ist es, nicht aus Deinem Ruf,
26 
ein Zittern, nicht von göttlichem Verzichte,
27 
ein Schwanken, nicht in Deinem Gleichgewichte.
28 
Ein Rascheln ist und ein Zusammenraffen
29 
in allen den geborstenen Gebäuden,
30 
ein Sichentgelten und ein Sichvergeuden,
31 
ein Sichbegatten und ein Sichbegaffen,
32 
und ein Betasten aller alten Freuden
33 
und aller Lüste welke Wiederkehr.
34 
Und über Kirchen, die wie Wunden klaffen,
35 
ziehn schwarze Vögel, die Du nie erschaffen,
36 
in irren Zügen hin und her.
 
37 
So ringen sie, die lange Ausgeruhten,
38 
und packen sich mit ihren nackten Zähnen
39 
und werden bange, weil sie nicht mehr bluten,
40 
und suchen, wo die Augenbecher gähnen,
41 
mit kalten Fingern nach den toten Thränen.
42 
Und werden müde. Wenige Minuten
43 
nach ihrem Morgen bricht ihr Abend ein.
44 
Sie werden ernst und lassen sich allein
45 
und sind bereit, im Sturme aufzusteigen,
46 
wenn sich auf Deiner Liebe heitrem Wein
47 
die dunklen Tropfen Deines Zornes zeigen,
48 
um Deinem Urteil nah zu sein.
49 
Und da beginnt es, nach dem großen Schrein:
50 
Das übergroße fürchterliche Schweigen.
 
51 
Sie sitzen alle wie vor schwarzen Thüren
52 
in einem Licht, das sie wie mit Geschwüren
53 
mit vielen grellen Flecken übersät.
54 
Und wachsend wird der Abend alt und spät.
55 
Und Nächte fallen dann in großen Stücken
56 
auf ihre Hände und auf ihren Rücken,
57 
der wankend sich mit schwarzer Last belädt.
58 
Sie warten lange. Ihre Schultern schwanken
59 
unter dem Drucke wie ein dunkles Meer,
60 
sie sitzen wie versunken in Gedanken,
61 
und sind doch leer.
62 
Was stützen sie die Stirnen?
63 
Ihre Gehirne denken irgendwo
64 
tief in der Erde, eingefallen, faltig:
65 
Die ganze alte Erde denkt gewaltig
66 
und ihre großen Bäume rauschen so.
 
67 
Allschauender, gedenkst Du dieses bleichen
68 
Und bangen Bildes, das nicht seinesgleichen
69 
unter den Bildern Deines Willens hat?
70 
Hast Du nicht Angst vor dieser stummen Stadt,
71 
die an Dir hangend wie ein welkes Blatt,
72 
sich heben will zu Deines Zornes Zeichen?
73 
O, greife allen Tagen in die Speichen,
74 
daß sie zu bald nicht diesem Ende nahen, -
75 
vielleicht gelingt es Dir noch auszuweichen
76 
dem großen Schweigen, das wir beide sahen.
77 
Vielleicht kannst Du noch einen aus uns heben,
78 
der diesem fürchterlichen Wiederleben
79 
den Sinn, die Sehnsucht und die Seele nimmt,
80 
einen, der bis in seinen Grund ergrimmt
81 
und dennoch froh durch alle Dinge schwimmt,
82 
der Kräfte unbekümmerter Verbraucher,
83 
der sich auf allen Saiten geigt
84 
und unversehrt als unerkannter Taucher
85 
in alle Tode niedersteigt.
86 
… Oder, wie hoffst Du diesen Tag zu tragen,
87 
der länger ist als aller Tage Längen,
88 
mit seines Schweigens schrecklichen Gesängen,
89 
wenn dann die Engel Dich wie lauter Fragen
90 
mit ihrem schauerlichen Flügelschlagen
91 
umdrängen?
92 
Sieh, wie sie zitternd in den Schwingen hängen
93 
und Dir mit hunderttausend Augen klagen,
94 
und ihres sanften Liedes Stimmen wagen
95 
sich aus den vielen wirren Übergängen
96 
nicht mehr zu heben zu den klaren Klängen.
97 
Und wenn die Greise mit den breiten Bärten,
98 
die Dich berieten bei den besten Siegen,
99 
nur leise ihre weißen Häupter wiegen,
100 
und wenn die Frauen, die den Sohn Dir nährten,
101 
und die von ihm Verführten, die Gefährten,
102 
und alle Jungfraun, die sich ihm gewährten:
 
103 
die lichten Birken Deiner dunklen Gärten, -
104 
wer soll Dir helfen, wenn sie alle schwiegen?
 
105 
Und nur Dein Sohn erhübe sich unter denen,
106 
welche sitzen um deinen Thron.
107 
Grübe sich Deine Stimme dann in sein Herz?
108 
Sagte Dein einsamer Schmerz dann:
109 
Sohn!
110 
Suchtest Du dann das Angesicht
111 
dessen, der das Gericht gerufen,
112 
Dein Gericht und Deinen Thron:
113 
Sohn!
114 
Hießest Du, Vater, dann Deinen Erben,
115 
leise begleitet von Magdalenen,
116 
niedersteigen zu jenen,
117 
die sich sehnen, wieder zu sterben?
 
118 
Das wäre Dein letzter Königserlaß,
119 
die letzte Huld und der letzte Haß;
120 
aber dann käme alles zu Ruh:
121 
der Himmel und das Gericht und Du.
122 
Alle Gewänder des Rätsels der Welt,
123 
das sich so lange verschleiert hält,
124 
fallen mit dieser Spange.
125 
… Doch mir ist bange …
 
126 
Allschauender, sieh wie mir bange ist,
127 
miß meine Qual!
128 
Mir ist bange, daß Du schon lange vergangen bist,
129 
Als Du zum erstenmal
130 
in Deinem Alleserfassen
131 
das Bild dieses blassen
132 
Gerichtes sahst,
133 
dem Du Dich hilflos nahst, Allschauender.
134 
Bist Du damals entflohn?
135 
Wohin?
136 
Vertrauender
137 
kann keiner Dir kommen
138 
als ich,
139 
der ich Dich
140 
nicht um Lohn
141 
verraten will wie alle die Frommen.
142 
Ich will nur, weil ich verborgen bin
143 
und müde wie Du, noch müder vielleicht,
144 
und weil meine Angst vor dem großen Gericht
145 
Deiner gleicht,
146 
will ich mich dicht,
147 
Gesicht bei Gesicht,
148 
an Dich heften;
149 
mit einigen Kräften
150 
werden wir wehren dem großen Rade,
151 
über welches die mächtigen Wasser gehn
152 
die rauschen und schnauben -
153 
denn: Wehe, sie werden auferstehn.
154 
So ist ihr Glauben: groß und ohne Gnade.

Details zum Gedicht „Aus den Blättern eines Mönchs“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
154
Anzahl Wörter
897
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Aus den Blättern eines Mönchs“ ist Rainer Maria Rilke. Rilke wurde im Jahr 1875 in Prag geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1906. Der Erscheinungsort ist Berlin / Leipzig, Stuttgart. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 154 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 897 Worte. Der Dichter Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Abend“, „Abend“ und „Abend“. Zum Autor des Gedichtes „Aus den Blättern eines Mönchs“ haben wir auf abi-pur.de weitere 337 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Rainer Maria Rilke

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Rainer Maria Rilke und seinem Gedicht „Aus den Blättern eines Mönchs“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Rainer Maria Rilke (Infos zum Autor)

Zum Autor Rainer Maria Rilke sind auf abi-pur.de 337 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.