Zum Beginn von Erich Mühsam

Wollt ihr die Freiheit, so seid keine Knechte!
Wollt ihr das Glück, so schaffet das Rechte!
Wollt ihr die Früchte, so ackert die Saat!
Wollt ihr das Leben, so leistet die Tat!...
 
Pestluft lagert über der Welt;
um das Große drängt sich die Kleinheit;
trübe Dünste verfinstern die Reinheit,
und der Mensch ist vom Haß entstellt.
Um das Daseins armselige Brocken
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sind alle Fäuste wütend geballt.
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Denn die Not schleicht auf leisen Socken, –
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und Not ist hungrig und krank und kalt.
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Gute Menschen sind Räuber geworden,
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Denn sie haben, was andere entbehren.
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Gute Menschen sengen und morden,
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denn sie schützen, was andre begehren.
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Friedliche Menschen sind tobende Horden,
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freie Menschen sind Sklaven geworden, –
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und Gottes gepriesenes Ebenbild
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ward zum reißenden Tier, raubgierig und wild.
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Blutend am Boden wimmert der Geist.
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Denn die Fäuste haben die Macht, –
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und unter den Hieben der Fäuste zerreißt
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das Licht des Geistes – und sinkt in die Nacht.
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Und um die Stirne schlingt sich ein Netz
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und schnürt dem Denken den Atem zusammen
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und tötet der Seele flackernde Flammen
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und fesselt das Fühlen – und heißt Gesetz.
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Und die da stöhnen in tausend Wunden,
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die sie einander im Hasse geschlagen,
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und die einander vor Gott verklagen, –
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sie werden von einer Kette gebunden...
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Und doch sehnt sich der Mensch nach Glück,
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und sehnt sich nach Freiheit und sehnt sich nach Leben,
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und möchte als Freund zum Menschen zurück,
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und möchte den Geist zur Freude erheben! –
 
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Möchtet ihr, Menschen? Wohl! Reckt eure Köpfe!
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Öffnet die Augen! Dehnt eure Brust!
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Fühlt euch als freie, als eigne Geschöpfe!
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Wollet die Freiheit! Wollet die Lust!
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Alles Geschehens Geheimnis ist Wollen.
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Wollt euer Glück! Erwacht! Erwacht!
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Die Wellen nur fließen, die Steine nur rollen,
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die eine Kraft zur Bewegung gebracht.
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Menschen! Besinnt euch auf eure Kraft!
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Zur Arbeit, die Frieden und Freude schafft!
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Eine Welt der Freiheit ist zu gewinnen, –
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und der erste Schritt zum Glück heißt: Beginnen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.2 KB)

Details zum Gedicht „Zum Beginn“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
315
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Erich Mühsam, ein deutscher Schriftsteller und Anarchist, der zwischen 1878 und 1934 lebte. Das Gedicht „Zum Beginn“ kann zeitlich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugeordnet werden und ist charakterisiert durch die scharfe soziale und politische Kritik, die typisch für Mühsams Werk ist.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht als Aufruf zur Rebellion und Selbstverwirklichung, es enthält zugleich aber auch eine soziale Botschaft.

Der Inhalt zeigt eine starke Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen das lyrische Ich sich befindet, geprägt durch Ungleichheit, Missgunst und Unterdrückung. In einfachen Worten fordert Mühsam die LeserInnen auf, die eigene Unterwerfung zu beenden und aktiv ihre Freiheit zu suchen.

Die Aussage des lyrischen Ichs ist dabei durchdrungen von einem Aufruf zur Handlung, wobei es feststellt, dass Freiheit, Glück und ein erfülltes Leben nur durch das eigene Tun und den Willen zur Veränderung erreicht werden können. Der Mensch soll sich seiner eigenständigen Kraft bewusst werden und diese nutzen, um eine gerechtere und freiere Welt zu schaffen.

Formal besteht das Gedicht aus drei Strophen von unterschiedlicher Länge. Die erste Strophe besteht aus vier Versen, die zweite aus 32 und die dritte aus zwölf Versen. Mühsams Sprache ist im Gedicht direkte und appellierende. Er setzt viele Aufforderungen und imperative Formen ein („Wollt ihr“, „Reckt eure“, „öffnet die“, „dehnt eure“, „wollet die“), was seinen Aufruf zur Handlung unterstreicht.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Mühsams Gedicht „Zum Beginn“ als ein Aufruf zur individuellen und sozialen Rebellion gesehen werden kann, der seine LeserInnen dazu auffordert, aktiv zu werden und für Veränderungen zu kämpfen. Die Sprachform und der direkte Appell unterstützen diese Botschaft eindrücklich.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Zum Beginn“ des Autors Erich Mühsam. Im Jahr 1878 wurde Mühsam in Berlin geboren. Im Jahr 1920 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Expressionismus zugeordnet werden. Bei Mühsam handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 315 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Weitere Werke des Dichters Erich Mühsam sind „An die Soldaten“, „Barbaren“ und „Bauchweh“. Zum Autor des Gedichtes „Zum Beginn“ haben wir auf abi-pur.de weitere 57 Gedichte veröffentlicht.

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