Zu spät! von Rudolf Lavant
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Ich habe kaum ein Wort mit dir gesprochen, |
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Ich habe kaum ins Auge dir gesehn, |
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Und dennoch hast du meinen Stolz gebrochen – |
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Ein süßes Wunder ist an mir geschehn; |
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Doch ward die Saat des Glückes, kaum entsprossen, |
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Von scharfer Sichel nieder auch gemäht – |
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Wir werden nicht durchs Leben als Genossen |
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Vereinigt gehn. Wir finden uns zu spät! |
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Du solltest nicht an meiner Stimme Zittern |
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Mein Leid errathen, deiner Anmuth Sieg. |
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Du sahst die Blätter zaudernd mich zerknittern; |
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Ich sollte lesen, – mochte nicht und schwieg. |
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Es mied mein Blick, in Scheu gesenkt, den deinen; |
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Ich weiß zu gut, wie viel ein Blick verräth, |
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Und uns, mein Kind – ich sag’s und möchte weinen – |
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Uns winkt kein Glück. Wir finden uns zu spät. |
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Hast du geahnt, was schweigend ich empfunden? |
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Hat sich die Trauer auch in dir geregt? |
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Sag’ nein, mein Kind! Sonst hätten diese Stunden |
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An deines Friedens Baum die Axt gelegt. |
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Doch ach, ich weiß, du hättest meinem Werben |
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Voll Lust gelauscht und nimmer mich verschmäht. |
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Du nickst mir schluchzend? Traurig ist zum Sterben |
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Dies eherne: „Wir finden uns zu spät.“ |
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Ich ging von dir, die Linke auf dem Herzen; |
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Die Nacht durchirrt’ ich ohne Ziel und Weg |
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Und in des Wildbachs Tosen sah in Schmerzen |
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Ich düster nieder von dem schwanken Steg. |
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Aufs Lager sank ich hilflos und zerrissen, |
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Und als der Hahn schon manches Mal gekräht, |
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Da stöhnt’ ich noch auf thränenfeuchten Kissen |
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Mit bleichem Mund: „Wir finden uns zu spät!“ |
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Ich muß dich fliehn, um so vielleicht zu wahren |
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Den lieben Augen ihren lichten Schein; |
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Ich geh’ entgegen freudenlosen Jahren, |
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Doch sollst du ewig mir gesegnet sein. |
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Vor meinem Blicke wird dein Antlitz stehen, |
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Wehmüthig-lieblich, ernst und still und stät – |
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Und wenn dir Nachts die Augen übergehen, |
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Sprich’s leise mit: „Wir fanden uns zu spät!“ |
Details zum Gedicht „Zu spät!“
Rudolf Lavant
5
40
299
1893
Naturalismus,
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Zu spät!“ stammt von dem deutschen Dichter Rudolf Lavant, der zwischen 1844 und 1915 lebte. Dies lässt sich zeitlich der Epoche des Realismus zuordnen.
Beim ersten Eindruck vermittelt das Gedicht eine Stimmung von Melancholie und tiefem Bedauern. Es scheint eine unerwiderte oder vielleicht auch eine verpasste Liebe darzustellen - eine Tragödie des „Was hätte sein können“.
In einfachen Worten geht es in dem Gedicht um eine Person, das lyrische Ich, die starke Gefühle für jemanden empfunden hat, dies jedoch nicht offenbarte. Durch die zurückhaltende Art des lyrischen Ichs ist die geliebte Person nicht auf seine emotionalen Regungen, sein „Zittern“ und seinen inneren Kummer aufmerksam geworden. Diese fehlende Kommunikation führt dazu, dass beide nicht zusammenfinden. Das lyrische Ich durchlebt eine tiefe Traurigkeit darüber, diese Liebe nicht gelebt zu haben. Es macht der geliebten Person aber keine Vorwürfe und wünscht dieser sogar, dass sie nichts von seinen Gefühlen erfuhr, um ihren Frieden nicht zu stören. Zum Abschluss entscheidet sich das lyrische Ich, die geliebte Person zu verlassen, um ihr Glück zu wahren, ist aber zugleich verzweifelt über das Scheitern der Beziehung.
Am Gedicht fällt auf, dass es einen festen Aufbau und ein durchgehend gleichbleibendes Versmaß hat. Jede Strophe besteht aus acht Versen. Dies unterstreicht die Strukturiertheit der Gedanken des lyrischen Ichs und die damit verbundene Kontrolle über seine Gefühle.
Die Sprache des Gedichts ist einfühlsam und bildhaft. Die Wortwahl vermittelt Emotionen und Sehnsucht, einschließlich Wörtern und Phrasen wie „süßes Wunder“, „scharfer Sichel“, „zaudernd“, „Schmerzen“ und „thränenfeuchten Kissen“.
Das sprachliche Bild des zu späten Findens wiederholt sich in jeder Strophe und stellt das zentrale Motiv des Gedichts dar, das drückende Gefühl, dass die Chance auf die ersehnte Liebe verpasst wurde. Durch diesen wiederholten Refrain wird die nachdrückliche und resignierende Grundstimmung des Gedichts betont und die resignierende Botschaft des lyrischen Ichs verdeutlicht: „Wir finden uns zu spät!“ Als solches ist das Gedicht ein scharfsinniges Porträt der menschlichen Natur, der verpassten Gelegenheiten und der tiefen Sehnsucht nach der unbeantworteten Liebe.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Zu spät!“ des Autors Rudolf Lavant. Geboren wurde Lavant im Jahr 1844 in Leipzig. Im Jahr 1893 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Stuttgart. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Naturalismus oder Moderne zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 299 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 40 Versen. Weitere Werke des Dichters Rudolf Lavant sind „An den Herrn Minister Herrfurth Exzellenz“, „An den Kladderadatsch“ und „An die Frauen“. Zum Autor des Gedichtes „Zu spät!“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 96 Gedichte vor.
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Zum Autor Rudolf Lavant sind auf abi-pur.de 96 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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