Zu Gott von Richard Dehmel

Mein Gott hat mir gesagt: „Sohn, man muß Mein sein! Mein!
Sieh meine durchbohrte Brust, mein strahlend, blutend Herz
und meine wunden Füße, die Magdalenens Schmerz
mit Thränen wusch; und siehst, siehst die große Pein
meiner Arm-und-Hände durch deine Sündenschuld,
siehst das Kreuz, die Nägel, und siehst und fühlst und glühst,
daß diese bittre Welt des Fleisches Nichts versüßt,
als Mein Fleisch und mein Blut, mein Wort und meine Huld.
 
War ich nicht dein, mein Sohn, dein bis in den Tod?
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mein Bruder du im Vater, mein Kind, mein Sohn im Geist!
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Und hab ich nicht geduldet, wie die Schrift verheißt?
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Hab ich nicht geschluchzt für deine Angst und Not?
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Und war mein blut’ger Schweiß nicht der Schweiß deiner Nächte,
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mein Freund, mein armer Freund du, der gern zu mir möchte!“
 
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II.
 
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Und ich –: Herr! du sagtest meine ganze Seele.
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Ja! ich will zu dir, Herr, suche und finde nicht.
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Du, dessen Liebe lodert wie aller Sonnen Licht:
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ich Dein sein, Dein? ich Wurm im Staub und voller Fehle!
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Du Friedensborn, den alle Kreatur erlechzet,
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ach, Einen Blick nur träufle in meinen Gram und Wahn!
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Darf ich denn wagen, Herr, nur deiner Spur zu nahn,
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ich, der auf eklen Knieen hier vor dir kriecht und ächzet?
 
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Und dennoch such’ich dich, taste, tappe nach dir,
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daß auf mein Elend falle nur deines Schattens Zier,
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doch Du bist ohne Schatten, Du, dessen Liebe lodert,
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du süßer Springquell, bitter nur dem, deß Herz noch modert
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im Rausche seiner Schmach, du Licht, ganz Licht, deß Glut
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und schwerer Kuß den trüben Menschenaugen wehe thut!
 
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III.
 
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„Man muß, muß mein sein! Ja: ich bin, bin der Kuß
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der Welten, bin der Odem, bin dieser Mund, du lieber
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Kranker, von dem du stammelst, der glühende; und dies Fieber,
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das deine Nächte schüttelt, bin Alles Ich! man muß
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nur wagen, mein zu sein! Ja: meine Liebe, die
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zu Höhen lodert, wo dein armes Ziegenseelchen
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nicht hinklimmt, wird dich, wie der Adler ein Rotkelchen,
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empor zu Himmeln tragen, oh, Himmeln, die – oh sieh,
 
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sieh meine helle Nacht, du weinend Auge du
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im Scheine Meines Mondes! sieh dieses Bett von Reinheit,
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all diese Unschuld sieh, all diese Ruh!
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Sei mein! die zwei Worte sind meine höchste Einheit,
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denn dein allmächtiger Gott vermag zu wollen – nein
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nur erst vermögen will ich dich: sei, sei Mein!“
 
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IV.
 
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– Herr, Herr, zuviel! ich wag’s nicht. Ich Dein? Wer? ich, und Dein?
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Nein nein, nur zagen darf ich, doch wagen – nein! ich bebe!
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ich will’s nicht, ich bin unwert! Ich Dein? du, Kelch und Rebe,
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du aller Heiligen Herz, du liebreich Brot und Wein,
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du, aller Gnadenwinde ungeheure Rose,
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du Eifrer Israels, du lichter Falter, dem
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nur die junge Blume der Unschuld angenehm:
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und ich soll Dein zu sein vermögen? ich lichtlose
 
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Schlacke, ich Frevler, Dein? Herr, bist du rasend?! Ich
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Befleckter, dem die Sünde Beruf ist, der – o Fluch –
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in allen seinen Sinnen, Gefühl, Geschmack, Geruch,
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Gehör, Gesicht, ja selbst in seinem Rausch nicht Dich,
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in seiner Reue selbst nur das Entzücken fühlt,
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mit dem der alte Adam nach neuen Lüsten in ihm wühlt!
 
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V.
 
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„Drum muß man mein sein! Ich bin’s der in dir rast,
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bin der neue Adam, der den alten frißt,
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dein Hunger und dein Mannah; und meine Liebe ist
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so strömender, je näher du der Quelle nahst.
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Ein strömend Feuer ist sie, drin all dein brünstig Blut
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auf immer sich verzehrt und wie ein Duft verdampft,
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und ist die Sündflut, deren schwangere Wut zerstampft
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jedweden schlimmen Keim und all die trübe Brut,
 
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die Ich gesät, daß einst mein Kreuz so heller strahle
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und daß auch du dereinst durch ein furchtbar Mirakel
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der Gnade Mein sein müßtest, entsühnt all deiner Makel –
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sei mein! empor! sei Mein! Empor mit Einem Male
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aus deiner Nacht zu Mir, Mir, du verlaßner armer
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Staub, dem Nichts blieb als Ich, dein ewiger Erbarmer!“
 
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VI.
 
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– Herr! Herr! ich fürchte mich. Mein Herz zittert und zagt.
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Ich seh, ich fühl’s: man muß, muß Dein sein. Aber wie,
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wie, Gott mein Gott, dein werden? du Richter, dessen Knie
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selbst der Gerechte kaum anzurühren wagt.
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Ja, wie? Denn sieh, es wankt der Grund, darinnen hier
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mein Herz sein Grab sich grub, und über mich wie Glut
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fühl ich herniederstürzen des Firmamentes Flut
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und rufe: Herr! wo führt ein Weg von Dir zu mir?!
 
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Reich mir die Hand, mein Leben, daß dieses Fleisches Weh
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und dieser kranke Geist nur fühle deine Spur!
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Denn jemals zu empfangen und zu genießen je
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die himmlische Umarmung: Herr, ist das möglich nur
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dein zu sein dereinst, selig in deinem Schooß,
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an deinem Herzen, Herr, zu ruhn: selig, sündelos?!
 
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VII.
 
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„So möglich, wie gewiß. O komm, o siehe, welch
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Entzücken deiner harrt! Laß ab von deinem Harme
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und deinem Trotz! komm, sinke in meine offnen Arme,
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gleichwie der Glühwurm in den erblühten Lilienkelch.
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Komm und verdien es dir! Komm an mein Ohr, schütt aus
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all deine Niedrigkeit mit deinem höchsten Mute;
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sag Alles, Sohn – frei, schlicht und ohne Stolz im Blute;
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reich mir der Reue blassen, schmachtenden Blumenstrauß!
 
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Dann tritt an meinen Tisch, einfältiglich; da soll
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ein köstlich Mahl, dem selbst die Engel andachtvoll
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nur zusehn dürfen, dich erquicken und entsühnen,
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da sollst den Wein du trinken, den Wein des immergrünen
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Weinstocks, dessen Güte und Kraft und Süßigkeit
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dein Blut befruchten werden für die Unsterblichkeit.
 
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„Dann geh und glaube fromm, demütig an das Urwort
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der Liebe, allwodurch ich dein Leib-und-Seel ich bin;
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und kehre ja, mein Sohn, sehr oft von Neuem in
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mein Haus ein, meinen Wein dort zu kosten und den Schwur dort
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zu leisten auf mein Brot, ohn welches all dein Streben
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nur ein Verrat von mir; und bitte mich, wie Brauch,
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mich, Vater Sohn und Geist, und meine Mutter auch,
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daß du das Lämmlein werdest, das stumm versprützt sein Leben,
 
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daß du das Kindlein werdest, bekleidet mit dem Linnen
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der Unschuld, und dein eigen armselig Sein und Sinnen
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vergessest, um einst Mir ein wenig gleich zu werden,
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Mir, der zu Zeiten des Pilatus und Herodes,
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des Petrus und des Judas auch dir gleich ward auf Erden,
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für dich am Kreuz zu sterben eines verruchten Todes.
 
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„Und um zu lohnen deinen Eifer in diesen Pflichten,
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die also süß, daß ihre Wonnen unsäglich sind,
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will ich dich schmecken lassen schon auf Erden, Kind,
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den Vorschmack Meines Friedens: meine dunkellichten
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geheimen Nächte, wo der Geist sich meinen Söhnen
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aufthut und vom ew’gen Kelch der Verheißung trinkt,
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wo hoch vom heil’gen Himmel der fromme Vollmond winkt,
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und aus der rosigen Finsternis die Engelchöre tönen,
 
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verkündend die Entrückung empor zu Meinen Lichte,
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die ew’gen Küsse meiner Langmut und Erbarmung,
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die Psalmen meines Ruhms und ewigen Traumgesichte,
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die ewige Weisheit und die ewige Umarmung
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im Taumel deiner süßen Schmerzen, die auch mein:
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die strahlende Verzückung, Mein zu sein!“
 
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VIII.
 
134 
– Ach! Herr! wie wird mir! siehe, weinend vor Deine Füße
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stürz’ich, schluchzend und jauchzend; deine Stimme macht
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mir wohl und weh! mein Auge weint, meine Seele lacht!
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und all das Weh, das Wohl hat all die selbe Süße!
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Aus Thränen jubl’ich, Herr; aus meinem Rausche wecken
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mich Hörnerrufe, Waffen winken auf klirrender Au,
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funkelnde Schilde, und drüber Engel in Weiß und Blau,
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und dieser Hörnerruf füllt mich mit Wut und Schrecken!
 
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Den Taumel fühl’ich, fühle das Graun der Auserwählten!
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Ja, ich bin unwert, aber: Herr, Deine Gnad ist groß!
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Sieh: voll Gebet, voll Demut: hier, sieh mich Schweißgequälten,
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siehe mich Glutbeglückten – obgleich ein namenlos
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Erschauern, Herr, den Trost mir Deines Mundes schwächt,
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und zitternd geht mein Atem – –
 
148 
IX.
 
149 
„So, armes Herz, so recht!“

Details zum Gedicht „Zu Gott“

Anzahl Strophen
29
Anzahl Verse
149
Anzahl Wörter
1256
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Zu Gott“ stammt von Richard Dehmel, einem deutschen Dichter und Schriftsteller. Dehmel lebte von 1863 bis 1920 und ist damit in der Epoche des Naturalismus und Symbolismus zu verorten.

Beim ersten Lesen hinterlässt das Gedicht einen emotionalen und tiefgründigen Eindruck. Es geht um den Dialog des lyrischen Ichs mit Gott und spielt mit religiösen Symboliken sowie mit starken Emotionen und Selbstzweifeln.

Im Inhalt des Gedichts geht es um das lyrische Ich, das sich in einer intensiven Auseinandersetzung mit Gott befindet. Gott spricht das lyrische Ich direkt an und offenbart seine Liebe sowie seinen Wunsch, dass das lyrische Ich ihm gehört. Das lyrische Ich ist von Schuldgefühlen und Selbstzweifeln geplagt und fühlt sich unwürdig gegenüber Gott. Gott beruhigt und ermutigt das lyrische Ich, hebt seine Allmacht hervor und lädt es dazu ein, Teil seiner göttlichen Liebe zu werden. Daraufhin öffnet sich das lyrische Ich für Gott, auch wenn es weiterhin von Angst geplagt ist.

Das Gedicht ist in altdeutscher Sprache verfasst, was für einige Leser möglicherweise eine Herausforderung darstellen kann. Es zeichnet sich durch pathetische und bildreiche Sprache aus und nutzt viele Metaphern und Symbole. Die Form des Gedichts ist geprägt von vielen Strophen unterschiedlicher Länge und regelmäßigem Reim.

Die Sprache ist sehr dicht und emotional, was den intensiven inneren Konflikt des lyrischen Ichs widerspiegelt. Der Dialog zwischen Gott und dem lyrischen Ich folgt einer dramatischen Struktur, die von Hoffnung, Angst und schließlich Akzeptanz geprägt ist.

Insgesamt handelt es sich bei „Zu Gott“ um ein sehr emotionales und tiefgründiges Gedicht, das den inneren Konflikt und die spirituelle Suche des lyrischen Ichs auf packende Weise darstellt. Die starke religiöse Symbolik unterstreicht die tiefe Spiritualität und die Ambivalenz des lyrischen Ichs in seiner Beziehung zu Gott.

Weitere Informationen

Richard Dehmel ist der Autor des Gedichtes „Zu Gott“. 1863 wurde Dehmel in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Im Jahr 1893 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 149 Versen mit insgesamt 29 Strophen und umfasst dabei 1256 Worte. Der Dichter Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Bann“, „Bastard“ und „Bitte“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Zu Gott“ weitere 522 Gedichte vor.

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