Ziblis von Johann Wolfgang von Goethe

Eine Erzählung

Mädgen, sezzt euch zu mir nieder
Niemand stöhrt hier unsre Ruh,
Seht es kommt der Frühling wieder
Welkt die Blumen und die Lieder,
Ihn zu ehren hört mir zu.
 
Weise, strenge Mütter lehren:
Mädgen, flieht der Männer List.
Und doch laßt ihr euch bethören!
Hört, ihr sollt ein Beyspiel hören,
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Wer am meisten furchtbar ist.
 
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Ziblis jung und schön, zur Liebe,
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Zu der Zärtlichkeit gemacht,
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Floh aus rauhem wilden Triebe,
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Nicht aus Tugend alle Liebe,
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Ihre Freude war die Jagd.
 
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Als sie einst tief im Gesträuche
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Sorglos froh ein Liedgen sang,
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Ward sie blaß, wie eine Leiche,
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Da aus einer alten Eiche
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Ein gehörnter Waldgott sprang.
 
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Zärtlich lacht das Ungeheuer,
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Ziblis wendet ihr Gesicht,
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Läuft, doch der gehörnte Freyer
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Springt ihr wie ein hüpfend Feuer
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Nach, und ruft: O flieh mich nicht.
 
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Schreyn kann niemals überwinden.
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Sie lief schneller, er ihr nach.
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Endlich kam sie zu den Gründen,
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Da wo unter jungen Linden
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Emiren am Wasser lag.
 
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Hilf mir! rief sie. Er voll Freude,
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Daß er so die Nymphe sah,
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Stand bewafnet zu dem Streite
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Mit dem Ast der nächsten Weide,
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Als der Waldgott kam, schon da.
 
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Der trat näher ihn zu höhnen,
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Und gieng schnell den Zweykampf ein
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Sie erbebt für Emirenen.
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Immer wird das Herz der Schönen
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Auf des Schönen Seite seyn.
 
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Seinen Feind im Sand zu höhnen,
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Regt sich Fuß, und Arm, und Hand.
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Bald mit Stosen, bald mit Dehnen
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Liebe stärkt die Kraft der Sehnen,
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Beyde waren gleich entbrandt.
 
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Endlich sinkt der Faun zur Erden,
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Denn ihn traf ein harter Streich.
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Gräslich zerrt er die Geberden;
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Emiren ihn los zu werden,
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Wirft ihn in den nächsten Teich.
 
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Ziblis lag mit matten Blikken,
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Da der Sieger kam, im Gras.
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Wirds ihm ihr zu helfen glükken?
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Leicht sind Mädgen zu erquikken,
55 
Oft ist ihre Krankheit Spas.
 
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Sie erhebt sich. Neues Leben
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Giebt ein heißer Kuß ihr gleich.
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Doch, der einen schon gegeben,
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Sollte nicht nach mehrern streben?
60 
Das sieht einem Mährgen gleich.
 
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Wartet nur. Es folgten Küße
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Hundertweis; sie schmekkten ihr.
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Ja die Mäulgen schmekken süße.
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Und bey Ziblis waren diese
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Gar die ersten. Glaubt es mir.
 
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Darum sog mit langen Zügen
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Sie begierig immer mehr.
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Endlich trunken von Vergnügen,
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Ward dem Emiren das Siegen,
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Wie ihr denken könnt, nicht schwer.
 
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Mädgen, fürchtet rauher Leute
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Buhlerische Wollust nie
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Die im ehrfurchtsvollen Kleide
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Viel von unschuldsvoller Freude
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Reden, Mädgen, fürchtet die.
 
76 
Wacht, denn da ist nichts zu scherzen.
77 
Seyd viel lieber klug als kalt.
78 
Zittert stets für eure Herzen.
79 
Hat man einmal diese Herzen;
80 
Ha! Das andre hat man bald.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.1 KB)

Details zum Gedicht „Ziblis“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
421
Entstehungsjahr
1767
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Ziblis“ wurde von Johann Wolfgang von Goethe verfasst, einem der bedeutendsten deutschen Dichter und Schriftsteller. Goethe lebte von 1749 bis 1832, das Gedicht stammt also aus der Epoche der Weimarer Klassik.

Der erste Eindruck des Gedichts ist, dass es sich um ein lebhaftes und unterhaltsames Stück mit einem reichen Bildervorrat und einem Hauch von Humor handelt.

Im Gedicht erzählt das lyrische Ich eine abenteuerliche Geschichte. Ein junges Mädchen namens Ziblis, eine Jägerin, wird von einem Waldgott aus einer Eiche heraus überrascht und verfolgt. Sie flieht zu Emiren, einem jungen Mann, der an einem nahegelegenen Gewässer stationiert ist. Emiren schafft es, den Waldgott im Zweikampf zu besiegen und in einen Teich zu werfen. Er tröstet anschließend Ziblis und es scheint, dass sie in eine romantische Beziehung eintreten. Goethes lyrisches Ich benutzt diese Geschichte als eine Art warnendes Lehrbeispiel für junge Frauen, um sich vor Männern mit zweideutigen Absichten zu schützen.

Das Gedicht besteht aus 16 Strophen mit jeweils 5 Versen und hält damit eine sehr regelmäßige Form. Die gewählte Sprache ist bildreich und lebendig und zeugt von Goethes Fähigkeit, komplexe Geschichten in einfacher und verständlicher Sprache zu erzählen, die dennoch eine tiefere Bedeutung trägt.

Eine genauere Betrachtung der Form und der Sprache des Gedichts zeigt, dass Goethe bekannte Gattungsmerkmale der Ballade verwendet. Es gibt eine durchgängige erzählende Struktur, eine Vielzahl von direkter Rede und eine Dramatisierung des erzählten Geschehens. Der erzählerische Ton wird durch den regelmäßigen Rhythmus und den Reim unterstützt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Ziblis“ ein lebhaftes und unterhaltsames Gedicht ist, das aber auch eine ernste Botschaft enthält: Es warnt junge Frauen vor den Hintergedanken vermeintlich ehrenhafter Männer. Dies vermittelt Goethe durch die direkte und bildreiche Sprache sowie der dramatischen Darstellung des erzählten Geschehens.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Ziblis“ ist Johann Wolfgang von Goethe. Goethe wurde im Jahr 1749 in Frankfurt am Main geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1767. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Goethe ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Der Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Autoren im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Die Autoren versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Schriftstellern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Goethe, Schiller und natürlich die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Einer der populärsten Schriftsteller der deutschen Klassik ist Johann Wolfgang von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar). Seine Italienreise im Jahr 1786 wird als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Johann Wolfgang von Goethe prägte die Klassik ganz wesentlich. Sein Todesjahr (1832) kennzeichnet gleichzeitig das Ende dieser Epoche. Die Weimarer Klassik wird oft nur als Klassik bezeichnet. Beide Bezeichnungen sind in der Literatur gebräuchlich. Zu den essenziellen Motiven der Weimarer Klassik gehören unter anderem Menschlichkeit und Toleranz. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Weimarer Klassik typisch. Während man im Sturm und Drang die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Weimarer Klassik auf eine reglementierte Sprache. Die wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Weitere bekannte Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Die beiden letztgenannten arbeiteten jeweils für sich. Einen konstruktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller.

Das 421 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Johann Wolfgang von Goethe ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Entfernte“, „An die Günstigen“ und „An einen jungen Prahler“. Zum Autor des Gedichtes „Ziblis“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1618 Gedichte veröffentlicht.

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