Zeus von Otricoli von Marie Eugenie Delle Grazie

Leicht neigst du das Haupt und auf ernster Stirne
Thront gebietend dir der Vollendung Höchstes:
Edle Menschenanmuth mit Götterwürde
Machtvoll sich einend!
 
Seiendes verschmilzt so in deinem Wesen
Mit dem Götterdrang, der von Ewigkeit her
Mystisch sich dem Werdenden paart, das immer
Rein’rer Vollendung,
 
Immer höh’rer Form und Gestaltung zustrebt,
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Und das Ur-Geheimnis des eig’nen Wesens
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Über sich als schaffende Gottheit in die
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Himmel emporhob!
 
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Und solch’ Traumbild hätt’ nun die Welt für immer
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Schnöd’ vergessen, wie ach! im Buch der Zeiten
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Ihrer Größten Namen sich bleich verwischen,
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Spurlos verschwinden?!
 
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Aber sieh! da gleitet ein Strahl der Sonne
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Goldig-hell dir über das Hanpt und zeigt mir
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Deines Mundes Lächeln, das heit’re, milde,
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Göttlich erhab’ne –
 
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Und ich fühl’, daß heut’ noch in allem Werden
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Hehr und sonnengoldig dies Lächeln aufglänzt!
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Nickst du Antwort mir? Die ambrosischen Locken
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Wallen dir vorwärts!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.9 KB)

Details zum Gedicht „Zeus von Otricoli“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
24
Anzahl Wörter
144
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das ausgewählte Gedicht „Zeus von Otricoli“ wurde von Marie Eugenie Delle Grazie verfasst, die von 1864 bis 1931 lebte. Daher lässt sich das Werk zeitlich in das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert einordnen, eine Zeit des Umbruchs und der Modernisierung.

Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht als eine Huldigung an die ehrwürdige Figur des Gottes Zeus, in diesem Fall repräsentiert durch die Statue des Zeus von Otricoli. Die lyrische Stimme bewundert die majestätische Mischung aus menschlicher Anmut und göttlicher Würde, die in der Darstellung des Zeus zum Ausdruck kommt.

Im Kern des Gedichts steht die Betrachtung des Aspekts der „Vollendung“ im menschlichen und göttlichen Dasein, der im Konzept des Zeus als oberstem Gott materialisiert wird. Das lyrische Ich zeichnet das Bild eines Gottes, der sowohl Aspekte der physischen als auch der geistlichen Welt in sich vereinigt. Die Worte „Mystisch sich dem Werdenden paart, das immer / Rein’rer Vollendung,“ verweisen auf den ewigen Zyklus des Lebens und die inhärente Vollkommenheit des Seienden.

Formal besteht das Gedicht aus sechs gleich strukturierten Strophen mit jeweils vier Versen. Die Sprache ist aufwändig und bildreich gestaltet. Delle Grazie nutzt den Pathos, um ihre Bewunderung und Ehrfurcht vor dem göttlichen Zeus auszudrücken.

Gegen Ende der Geschichte beklagt das lyrische Ich, dass die Welt solche Traumbilder vergessen hat, eine Anspielung auf das Vergessen der alten Götter und ihrer Weisheiten. Doch in den letzten beiden Strophen findet das Gedicht einen positiven Abschluss: Ein Sonnenstrahl fällt auf das Haupt der Statue, und das lyrische Ich erkennt das Lächeln des Zeus und fühlt den Einfluss des Gottes in der Welt, die immer noch in „Werden“ und Entwicklung begriffen ist.

Zusammengefasst kann das Gedicht als eine Betrachtung des immerwährenden Prozesses von Werden und Vergehen, Verschwinden und Wiederentdecken verstanden werden, dargestellt am Beispiel der Figur des Zeus. Dennoch herrscht ein Optimismus, dass die göttliche Präsenz und Inspiration weiterhin in der Welt fest verankert ist und immer wieder neu entdeckt werden kann.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Zeus von Otricoli“ ist Marie Eugenie Delle Grazie. Die Autorin Marie Eugenie Delle Grazie wurde 1864 in Weißkirchen (Bela Crkva) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1892 zurück. In Leipzig ist der Text erschienen. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Bei Delle Grazie handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 144 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 24 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Die Gedichte „Atlantis“, „Beatrice Cenci“ und „Campo Santo“ sind weitere Werke der Autorin Marie Eugenie Delle Grazie. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Zeus von Otricoli“ weitere 71 Gedichte vor.

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