Wintermärchen von Otto Ernst
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Auf dem Baum vor meinem Fenster |
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Saß im rauhen Winterhauch |
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Eine Drossel, und ich fragte: |
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„Warum wanderst du nicht auch? |
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Warum bleibst du, wenn die Stürme |
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Brausen über Flur und Feld, |
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Da dir winkt im fernen Süden |
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Eine sonnenschöne Welt?“ |
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Antwort gab sie leisen Tones: |
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„Weil ich nicht wie andre bin, |
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Die mit Zeiten und Geschicken |
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Wechseln ihren leichten Sinn. |
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Da die wandern nach der Sonne |
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Ruhelos von Land zu Land, |
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Haben nie das stille Leuchten |
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In der eignen Brust gekannt. |
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Mir erglüht’s mit ew’gem Strahle |
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– Ob auch Nacht auf Erden zieht –, |
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Sing’ ich unter Flockenschauern |
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Einsam ein erträumtes Lied. |
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Wundersamer Trost in Schmerzen! |
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Doch nur jene kennen ihn, |
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Die in Nacht und Sturm beharren |
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Und vor keinem Winter fliehn. |
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Dir auch leuchtet hell das Auge; |
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Deine Wange zwar ist bleich; |
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Doch es schaut dein Blick nach innen |
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In das ew’ge Sonnenreich. |
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Laß uns hier gemeinsam wohnen, |
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Und ein Lied von Zeit zu Zeit |
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Singen wir von dürrem Aste |
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Jenem Glanz der Ewigkeit.“ |
Details zum Gedicht „Wintermärchen“
Otto Ernst
8
32
166
1907
Moderne
Gedicht-Analyse
Das vorliegende Gedicht „Wintermärchen“ ist von Otto Ernst, einem deutschen Schriftsteller, der von 1862 bis 1926 lebte. Das Gedicht gehört somit in die Epoche des Realismus.
Beim ersten Lesen entsteht der Eindruck einer ruhigen, fast melancholischen Stimmung. Der Dialog zwischen dem lyrischen Ich und einer Drossel, die trotz des harten Winters nicht in den Süden fliegt, wirkt nachdenklich und weist auf eine tiefergehende symbolische Ebene hin.
Inhaltlich richtet das lyrische Ich Fragen an die Drossel, wieso sie trotz der kalten Jahreszeit und den Unbilden des Wetters nicht gen Süden wandert, wo es sicherlich wärmer und angenehmer wäre. Die Drossel antwortet, dass sie nicht wie andere ist, die stets die Sonne suchen und von Ort zu Ort wandern. Sie hat das „stille Leuchten“ in ihrer eigenen Brust erkannt und singt, auch unter Schneeflocken, ihr „erträumtes Lied“. Sie kennt den „wundersamen Trost in Schmerzen“, den nur jene kennen, die auch in der Dunkelheit und im Sturm ausharren und nicht vor dem Winter fliehen. Sie sieht in dem lyrischen Ich eine verwandte Seele, die ebenfalls das „ew'ge Sonnenreich“ in sich trägt, und schlägt vor, gemeinsam hier zu wohnen und vom „Glanz der Ewigkeit“ zu singen.
Die Aussagen des lyrischen Ichs und der Drossel lassen sich als Metapher für das Leben verstehen: Es geht dabei um Standhaftigkeit, um das In-sich-Ruhen und den Mut, auch schwierigen Zeiten entgegenzutreten, statt ihnen auszuweichen. Speziell die Drossel symbolisiert eine innere Stärke und Zufriedenheit, die von äußeren Umständen unabhängig ist.
Formal besteht das Gedicht aus acht vierzeiligen Strophen, was ihm eine klare, geordnete Struktur gibt. Die Sprache ist einfach und direkt, aber durch den Dialog und die poetische Bildsprache - etwa das „stille Leuchten“ in der eigenen Brust oder das „ew'ge Sonnenreich“ - dennoch eindrücklich und vielschichtig. Die Wiederholung des Wortes „ewig“ in verschiedenen Kontexten unterstreicht die Themen Beständigkeit und innere Stärke.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Wintermärchen“ ist Otto Ernst. Geboren wurde Ernst im Jahr 1862 in Ottensen bei Hamburg. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1907 zurück. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 166 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 32 Versen. Die Gedichte „Aus einer Nacht“, „Ausflug“ und „Blühendes Glück“ sind weitere Werke des Autors Otto Ernst. Zum Autor des Gedichtes „Wintermärchen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 64 Gedichte vor.
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Zum Autor Otto Ernst sind auf abi-pur.de 64 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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