Wiegenlied von Erich Mühsam

Still, mein armes Söhnchen, sei still.
Weine mich nicht um mein bißchen Verstand.
Weißt ja noch nichts vom Vaterland,
daß es dein Leben einst haben will.
Sollst fürs Vaterland stechen und schießen,
sollst dein Blut in den Acker gießen,
wenn es der Kaiser befiehlt und will. –
Still, mein Söhnchen, sei still!
 
Trink, mein Söhnchen, von meiner Brust.
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Trink, dann wirst du ein starker Held,
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ziehst mit den andern hinaus ins Feld.
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Vater hat auch hinaus gemußt.
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Vater ward wieder Willen und Hoffen
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von einer Kugel ins Herz getroffen.
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Aus ist nun seine und meine Lust. –
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Trink von deiner Mutter Brust!
 
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Freu dich, goldiges Söhnchen, und lach.
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Bist du ein Mann einst, kräftig und groß,
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wirst du das Lachen von selber los.
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Fröhlich bleibt nur, wer krank ist und schwach.
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Vater war lustig. Ich hab ihn verloren,
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hab dann dich unter Schmerzen geboren, –
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hörst drum ewig mein bitteres Ach!
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Freu dich, Söhnchen, und lach!
 
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Schlaf, mein süßes Söhnchen, o schlaf.
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Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,
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weißt nichts von Vaters Heldentod,
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als ihn die bleierne Kugel traf.
29 
Früh genug wird der Krieg und der Schrecken
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dich zum ewigen Schlummer erwecken...
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Friede, behüt meines Kindes Schlaf! –
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Schlaf, mein Söhnchen, o schlaf...
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Wiegenlied“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
201
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das vorgestellte Gedicht ist „Wiegenlied“ von Erich Mühsam, einem deutschen Schriftsteller und Anarchisten, der am 6. April 1878 geboren wurde und am 10. Juli 1934 durch die Hand der Nazis starb. Die Wahl des Titels ist eine sarkastische Anspielung auf das traditionelle Genre „Wiegenlied“ - ein liebevoller und beruhigender Song, der dazu bestimmt ist, ein Kind in den Schlaf zu singen. Mühsams zeitliche Einordnung fällt vor allem in eine Epoche gesellschaftlicher und politischer Unruhe zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht so, als ob es direkt an ein Neugeborenes oder Kleinkind gerichtet ist. Allerdings gehen die darin verborgenen Botschaften weit über die typischen Verse eines Wiegenliedes hinaus. Die Mutter spricht existenzielle Ängste aus und äußert eine düstere Vorahnung auf den zukünftigen Lebensweg ihres Sohnes.

Inhaltlich thematisiert das Gedicht die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges, die vergeblichen Hoffnungen und Träume, die mit dem Leben eines jungen Mannes zerstört werden könnten. Die tragische Ironie liegt in den Ausdrucksformen des lyrischen Ichs, die normalerweise benutzt werden, um Liebe und Fürsorge auszudrücken, während sie gleichzeitig das Kind auf eine gewaltvolle und potenziell tödliche Zukunft vorbereitet.

Formal handelt es sich um ein Gedicht, bestehend aus vier Strophen mit jeweils acht Versen. Die erste Strophe setzt eine düstere Grundstimmung und spricht die Erwartungen und Pflichten an, die das Kind in seinem späteren Leben erfüllen muss. Die letzte Strophe endet mit einem bitteren Ausblick auf das, was der Zukunft bringen könnte, und zeigt eine Mutter, die um den Frieden für ihr Kind betet.

Die Sprache des Gedichts ist klar und direkt, aber voller trauriger und tragischer Bilder, die den verheerenden Einfluss des Krieges auf Individuen und Familien veranschaulichen. Verwendet werden einfache aber kraftvolle Metaphern, die den Kontrast zwischen der unschuldigen Welt des Kindes und der brutalen Realität des Krieges verdeutlichen.

In Mühsams Gedicht „Wiegenlied“ wird starke Gesellschaftskritik in alltäglicher Sprache formuliert. Es übt harte Kritik an einer Welt, die junge Menschen opfert und Eltern zwingt, ihre Kinder auf ein Leben in Krieg und Leid vorzubereiten.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Wiegenlied“ des Autors Erich Mühsam. 1878 wurde Mühsam in Berlin geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1920 zurück. In München ist der Text erschienen. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Expressionismus zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Mühsam handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 201 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 32 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Die Gedichte „Das Neue Deutschland“, „Der Anarchisterich“ und „Der Mahner“ sind weitere Werke des Autors Erich Mühsam. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Wiegenlied“ weitere 57 Gedichte vor.

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