Wenn ich allein bin von Joachim Ringelnatz

Wenn ich allein bin, werden meine Ohren lang,
Meine, meine Pulse horchen bang
Auf queres Kreischen, sterbenden Gesang
Und all die Stimmen scheeler Leere.
 
Wenn ich allein bin, leck ich meine Träne.
 
Wenn ich allein bin, bohrt sich meine Schere,
Die Nagelschere in die Zähne;
Sielt höhnisch träge sich herum die Zeit. –
Der Tropfen hängt. – Der Zeiger steht. –
 
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Einmal des Monats steigt ein Postpaket
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Aufrührerisch in meine Einsamkeit.
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So sendet aus Meran die Tante Liese
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Mir tausend fromme, aufmerksame Grüße;
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Ein’ jeden einzeln sauber einpapiert,
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Mit Schleifchen und mit Fichtengrün garniert,
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Vierblätterklee und anderm Blumenschmuck –
 
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Ich aber rupfe das Gemüse
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Heraus mit einem scharfen Ruck,
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Zerknülle flüchtig überfühlend
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Den Alles-Gute-Wünsche-Brief
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Und fische giftig tauchend, wühlend,
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Aus all den Knittern und Rosetten
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Das einzige, was positiv:
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Zwei Mark für Zigaretten.
 
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Die Bilder meiner Stube hängen schief.
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In meiner Stube dünsten kalte Betten.
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Und meine Hoffart kuscht sich. Wie ein Falter
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Sich ängstlich einzwängt in die Borkenrinde.
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Wenn ich allein bin, dreht mein Federhalter
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Schwarzbraunen Honig aus dem Ohrgewinde.
 
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Bin ich allein: Starb, wie ein Hund verreckt,
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Hat mich ein fremdes Weib mit ihren Schleiern
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Aus Mitleid oder Ekel zugedeckt.
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Doch durch die Maschen seh ich Feste feiern,
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Die mich vergaßen über junger Lust. –
 
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Ich reiße auseinander meine Brust
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Und lasse steigen all die Vögel, die
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Ich eingekerkert, grausam dort gefangen,
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Ein Leben lang gefangenhielt, und nie
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Besaß. Und die mir niemals sangen.
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Wenn ich allein bin, pups ich lauten Wind.
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Und bete laut. Und bin ein uralt Kind.
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Wenn ich –
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.1 KB)

Details zum Gedicht „Wenn ich allein bin“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
43
Anzahl Wörter
249
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Geschrieben von Joachim Ringelnatz, einem bekannten deutschen Poeten und Kabarettisten des beginnenden 20. Jahrhunderts, trägt sein lyrisches Werk „Wenn ich allein bin“ deutliche Merkmale der kunst- und literaturgeschichtlichen Epoche des Expressionismus (ca. 1910-1925).

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht von Melancholie und Einsamkeit geprägt zu sein. Die stetige Wiederholung der Wendung „Wenn ich allein bin“ am Anfang mehrerer Strophen verstärkt diesen ersten Eindruck. Sie bringt das lyrische Ich in eine Phase der Reflexion und Introspektion und erregt beim Leser Mitgefühl und Neugier.

Das Gedicht beschreibt die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs in einer Zeit der Einsamkeit. Es bemüht sich um das Verstehen seiner eigenen Emotionen und handelt von der inneren Auseinandersetzung und der Suche nach einem Ausdrucksweg. Durch die detaillierte Beschreibung von banalen bis hin zu grotesken alltäglichen Szenen werden tiefgehende und zum Teil trostlose Emotionen dargestellt.

Formal ist das Gedicht in acht Strophen unterschiedlicher Länge gegliedert. Jede dieser Strophen trägt unterschiedlich viele Verse. Die Versstruktur und der unregelmäßige Rhythmus spiegeln vermutlich den inneren, ungeordneten Zustand des lyrischen Ichs wider.

Sprachlich und stilistisch fallen besonders die drastischen und kontrastierenden Bilder auf, die der Autor nutzt. So wird in Strophe 2 beispielsweise die selbstverletzende Handlung des lyrischen Ichs, sich mit einer Nagelschere in die Zähne zu bohren, mit der beinahe komischen Beschreibung der „höhnisch träge“ sich herumdrehenden Zeit in Verbindung gebracht. Dies könnte Ausdruck der Verzweiflung, des Leidens aber auch der Resignation sein.

Ein weiterer bemerkenswerter und typisch expressionistischer Aspekt des Gedichtes ist die stark subjektive und Ich-zentrierte Sichtweise. Die Individualität und das subjektive Empfinden des lyrischen Ichs stehen im Vordergrund.

Eine abschließende Bemerkung zu dem Gedicht lässt sich am Ende finden. Trotz der düsteren Atmosphäre und der starken Betonung der Einsamkeit zeigt der Text eine gewisse Kompromisslosigkeit und Selbstbehauptung, vor allem in der letzten Strophe, in der das Ich „lauten Wind“ pups und sich als „uralt Kind“ bezeichnet – Indikatoren dafür, dass das lyrische Ich trotz aller Trostlosigkeit an seiner Individualität und Selbstbestimmung festhält.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Wenn ich allein bin“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Joachim Ringelnatz. Der Autor Joachim Ringelnatz wurde 1883 in Wurzen geboren. 1920 ist das Gedicht entstanden. München ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Bei Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das 249 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 43 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Joachim Ringelnatz ist auch der Autor für Gedichte wie „Afrikanisches Duell“, „Alone“ und „Alte Winkelmauer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Wenn ich allein bin“ weitere 560 Gedichte vor.

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