Wenn die Igel in der Abendstunde von Kurt Tucholsky

Wenn die Igel in der Abendstunde
still nach ihren Mäusen gehn,
hing auch ich verzückt an deinem Munde,
und es war um mich geschehn —
Anna-Luise —!
 
Dein Papa ist kühn und Geometer,
er hat zwei Kanarienvögelein;
auf den Sonnabend aber geht er
gern zum Pilsner in’n Gesangverein —
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Anna-Luise —!
 
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Fragt’ ich: „Wirst die meine du in Bälde?“
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blicktest du voll süßer Träumerei
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auf das grüne Vandervelde,
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und du dachtest dir dein Teil dabei,
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Anna-Luise —!
 
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Und du gabst dich mir im Unterholze
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einmal hin und einmal her
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und du fragtest mich mit deutschem Stolze,
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ob ich auch im Krieg gewesen wär …
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Anna-Luise —!
 
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Ach, ich habe dich ja so belogen!
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Hab gesagt, mir wär ein Kreuz von Eisen wert,
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als Gefreiter wär ich ausgezogen,
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und als Hauptmann wär ich heimgekehrt —
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Anna-Luise —!
 
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Als wir standen bei der Eberesche,
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wo der Kronprinz einst gepflanzet hat,
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raschelte ganz leise deine Wäsche,
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und du strichst dir deine Röcke glatt,
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Anna-Luise —!
 
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Möchtest nie wo andershin du strichen!
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Siehst du dort die ersten Sterne gehn?
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Habe Dank für alle unvergesserlichen
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Stunden und auf Wiedersehn!
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Anna-Luise —!
 
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Denn der schönste Platz, der hier auf Erden mein,
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das ist Heidelberg in Wien am Rhein,
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Seemannslos.
 
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Keine, die wie du die Flöte bliese …!
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Lebe wohl! Leb wohl.
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Anna-Luise —!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.8 KB)

Details zum Gedicht „Wenn die Igel in der Abendstunde“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
41
Anzahl Wörter
205
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Wenn die Igel in der Abendstunde“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem deutschen Schriftsteller und Journalisten, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholsky ist ein bedeutender Vertreter der literarischen Moderne und des politischen Kabaretts der Weimarer Republik. Daher kann das Gedicht zeitlich in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden.

Beim ersten Lesen erzeugt das Gedicht einen nostalgischen und melancholischen Eindruck. Es scheint eine Geschichte zu erzählen, in der Liebe, Lüge und Abschied zentrale Rollen spielen. Das lyrische Ich reflektiert über eine vergangene Beziehung zu einer Frau namens Anna-Luise.

Inhaltlich geht es um das lyrische Ich, das sich an die intensiven und intimen Momente mit Anna-Luise erinnert. Dabei mischen sich positive Erinnerungen an die gemeinsamen Stunden und romantischen Begegnungen (Strophen 1, 2 und 3) mit der Erkenntnis, dass er Anna-Luise angelogen hat, indem er vorgab, ein Kriegsheld zu sein (Strophe 5). Am Ende des Gedichts verabschiedet sich das lyrische Ich von Anna-Luise und drückt eine tiefe Traurigkeit und Sehnsucht aus (Strophen 7, 8 und 9). Somit wird eine vergangene, geliebte und gleichzeitig komplizierte Beziehung geschildert.

Die Form des Gedichts zeichnet sich durch eine klare Struktur aus, bestehend aus neun Strophen, wobei jede Strophe (bis auf die letzten beiden) aus fünf Versen besteht. Am Ende jeder Strophe steht allein der Name „Anna-Luise“, was die Wichtigkeit dieser Person in dem Gedicht unterstreicht. Die Sprache ist direkt und einfach, metrisch gesehen handelt es sich um einen freien Vers. Bisweilen wirkt die Sprache volkstümlich und umgangssprachlich, wie „nach ihren Mäusen gehn“ oder „dachte dir dein Teil dabei“. Dies unterstreicht das realistische und authentische Geschehen und die emotionale Nähe des lyrischen Ichs zu Anna-Luise.

Zusammenfassend handelt es sich bei Tucholskys Gedicht um eine bewegende und nostalgische Darstellung einer vergangenen Liebe, die durch ihre ehrliche und direkte Sprache und ihre klare, aber dennoch vielschichtige Struktur besticht. Die Nähe und Intimität der Liebenden werden ebenso spürbar wie das Scheitern ihrer Beziehung und die bittere Erkenntnis des lyrischen Ichs, Anna-Luise durch seine Lügen verloren zu haben.

Weitere Informationen

Kurt Tucholsky ist der Autor des Gedichtes „Wenn die Igel in der Abendstunde“. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1928 entstanden. In Berlin ist der Text erschienen. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Republik hatten erheblichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik. Die Neue Sachlichkeit in der Literatur der Weimarer Republik ist von distanzierter Betrachtung der Welt und Nüchternheit gekennzeichnet und politisch geprägt. Es wurde eine Alltagssprache verwendet um mit den Texten so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die zum Beispiel in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz setze den Schriftstellern dieser Zeit noch mal verstärkt Grenzen. 1931 trat die Pressenotverordnung in Kraft, dadurch waren die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate hinweg möglich geworden.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Schriftsteller ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Jahr 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. Daraufhin flohen viele Schriftsteller aus Deutschland. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland sind typisch für diese Literaturepoche. Anders als andere Literaturepochen, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten zu erwähnen. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das vorliegende Gedicht umfasst 205 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 41 Versen. Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „Abschied von der Junggesellenzeit“, „Achtundvierzig“ und „All people on board!“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Wenn die Igel in der Abendstunde“ weitere 136 Gedichte vor.

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